Die EU verstrickt sich in schreiende Widersprüche – wieder einmal. Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine (24. Februar) tönen die politischen Entscheidungsträger immer wieder im Brustton der Überzeugung, ihre Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.

Denn: Während die russischen Erdgaslieferungen nach Europa über Pipelines seit Ausbruch des Ukrainekriegs wegen der Sanktionen drastisch zurückgegangen sind, sind die EU-Einfuhren von Flüssiggas (LNG) aus Russland in den ersten neun Monaten 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 46 Prozent gestiegen, wie die Europäische Kommission jetzt mitteilt.

Noch im September posaunte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: “Wir müssen Russlands Einnahmen kürzen, mit denen Putin seinen grausamen Krieg in der Ukraine finanziert.“ Was den Erdgasimport über Gasleitungen angeht, mag das auch stimmen. Auf die russischen Einfuhren von verflüssigtem Erdgas trifft das aber überhaupt nicht zu.

Im Gegenteil: Aus Statistiken, die die EU-Kommission der Wochenzeitung Politico zur Verfügung gestellt hat, geht hervor, dass die EU-Staaten im Zeitraum Jänner bis September 2022 16,5 Kubikmeter russisches LNG importiert haben. Im Vergleich: In den ersten neun Monaten 2021 lagen die Importe bei 11,3 Milliarden Kubikmeter. Ein Zuwachs von 46 Prozent.

Russische Gaseinfuhren über Pipelines sind wegen der Sanktionen massiv gedrosselt wordenQuelle: dpa

Europa könnte sich 2023 erneut Putins Gaserpressung ausliefern

Freilich: Der Anstieg der LNG-Importe ist im Vergleich zum massiven Rückgang der russischen Gaseinfuhren über Pipelines verhältnismäßig gering. Laut EU-Kommission haben sich diese in derselben Zeitspanne von 105,7 Milliarden Kubikmeter 2021 auf 54,2 Milliarden Kubikmeter 2022 halbiert. Dennoch: Der LNG-Anstieg steht im krassen Widerspruch zur allgemeinen EU-Rhetorik.

Laut einer Analyse der Energiemarktbeobachtungsgruppe Montel waren Frankreich, die Niederlande, Spanien und Belgien 2022 die wichtigsten Importeure von russischem Flüssiggas, wobei ein Drittel der russischen LNG-Lieferungen nach Europa nach Frankreich und fast ein Viertel nach Spanien gingen.

Das meiste russische LNG, das in Europa ankommt, stammt vom Energieunternehmen Novatek, das das Yamal-LNG-Terminal in Nordwestsibirien betreibt. Einige europäische Länder haben langfristige Verträge über die Einfuhr von LNG abgeschlossen, die noch mehrere Jahre laufen. Nur zwei Länder in Europa – das Vereinigte Königreich und Litauen – haben die russischen LNG-Importe vollständig gestoppt.

Beobachter verweisen jetzt darauf, dass die EU-Länder besteht das Risiko, dass die zunehmende Nutzung von LNG aus Russland auf dem Seeweg Europa 2023 einer neuen Runde von Putins Gaserpressung ausliefern könnte, gerade wenn die EU versucht, ihre Gasvorräte für den Winter aufzufüllen.

Entgegen der offiziellen Rhetorik: Die Gasversorgung der EU mit russischem Flüssiggas nimmt zu

Die Augen werden vor russischen LNG-Strömen konsequent verschlossen

Anne-Sophie Corbeau, eine Wissenschaftlerin für globale Forschung an der Columbia University, sagte, es sei für alle sehr bequem, die Augen vor den russischen LNG-Strömen nach Europa zu verschließen”. Aus wirtschaftlicher Sicht, so Corbeau, ist es für Europa „sinnvoll“, vorerst weiterhin Flüssiggas aus Russland zu importieren. Sie fügte aber hinzu, ein Anstieg der Importe von russischem LNG berge das Risiko, „dass Russland LNG als geopolitische Waffe einsetzt” – so wie es dies auch bei Pipeline-Gas getan hat.“

Derweil übt die Ukraine Druck auf die EU aus. Svitlana Romanko, Direktorin der ukrainischen Kampagnengruppe Razom We Stand, die sich für ein vollständiges EU-Embargo gegen russische fossile Brennstoffe einsetzt, sagte, es gebe ein klares moralisches Argument für einen sofortigen Stopp der russischen LNG-Importe.

“Während die EU über Sanktionen und Embargos redet, wird in Wirklichkeit sehr wenig getan, um die LNG-Importe zu reduzieren”, sagte Romanko. “Europa muss jetzt handeln und diese absurde und kontraproduktive Finanzierung der russischen Kriegsmaschinerie stoppen”.