Der Geopolitik-Experte Gabriel Elefteriu sieht handfeste Hinweise auf einen weitreichenden Wendepunkt im Ukraine-Krieg. Auf dem Schlachtfeld bestehe mittlerweile ein Positionskrieg, in dem zwar der Verteidiger – die Ukraine – theoretisch im Vorteil ist. Angesichts der „russischen Überlegenheit bei Arbeitskräften und Rüstungen“ könne das „langfristige Ergebnis aber nur die allmähliche Zermürbung der ukrainischen Militärmacht sein, selbst wenn das derzeitige Niveau der westlichen Militärhilfe gleich bleibt“.

Elefteriu ist stellvertretender Direktor der britischen Denkfabrik „Council on Geostrategy“ in London und Fellow am Yorktown Institute in Washington, D.C. Er verfasste seine Überlegungen in einer ausführlichen Kolumne für „Brussels Signal“.

Im ersten Jahr des Krieges gingen zahlreiche westliche Analysten davon aus, dass Russland die Raketen ausgehen würden. Eine – von mehreren – verhängnisvollen Fehleinschätzungen.

Oberbefehlshaber der Ukraine lässt die Bombe platzen

Eine „Bombe“ sei überdies Anfang November ein erstaunlich ehrliches Interview des Oberkommandierers der ukrainischen Streitkräfte General Walerij Saluschnyj im Economist gewesen. Dort hat Saluschnyi erstmals eingeräumt: Man befände sich in einem langen Krieg, in dem Russland hinsichtlich der Arbeitskräfte im Vorteil ist. Überdies erhalte das Land zu wenig Ausrüstung und Waffen vom Westen. In einem Essay erklärte der General überdies: Russland „wird für längere Zeit über die Überlegenheit bei Waffen, Ausrüstung, Raketen und Munition verfügen“. Überdies werde „steigert Russlands Verteidigungsindustrie ihre Produktion trotz beispielloser Sanktionen“.

Saluschnyj gab ein erstaunlich mutiges und ehrliches Interview, das offenbar nicht mit Selenskyj abgesprochen war.Alexey Furman/Getty Images

Offensichtlich waren die Stellungnahmen nicht mit Präsident Wolodymyr Selenskyj abgesprochen, der wenig später die Äußerungen dementierte. Gabriel Elefteriu sieht darin einen Hinweis auf „Machtkämpfe in Kiew“. Weitere Faktoren, die gegen die Ukraine sprechen sind: Die sinkenden Unterstützung für Selenskyj in den USA und die nach wie vor intakte und wieder wachsende Wirtschaft Russlands. „Nichts davon hätte passieren sollen, und das bedeutet nicht nur, dass Russland den Krieg auf unbestimmte Zeit fortsetzen kann, sondern vielleicht auch dabei gedeihen kann. Allein diese Tatsache stellt einige grundlegende Annahmen auf den Kopf, die dem strategischen Denken des Westens im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zugrunde liegen.“

Russland hat nach wie vor ausreichend Munition – und Soldaten. Die Lage für die Ukraine droht sich auf lange Sicht zu verschlechtern.

Westen soll sich endlich mit der enormen Herausforderung auseinandersetzen

Besonders fatal: Im Westen „scheinen sich die politischen Entscheidungsträger der bedeutsamen Auswirkungen nicht bewusst zu sein“. Schuld an dieser „Haltung der Verleumdung“, die wünscht, „dass sich das Problem von selbst lösen oder einfach verschwinden würde“, sei die „Trägheit der unglaublich mächtigen westlichen Propaganda, die seit 20 Monaten hoffnungsvolle Interpretationen der Lage in der Ukraine produziert“.

Noch vor einem Jahr hatte es Standing Ovations für Selenskyj (im Bild mit Joe Biden) in Washington gegeben. Im September 2023 durfte er nicht einmal auf dem Capitol Hill sprechen.APA/AFP/Brendan Smialowski

In seiner Kolumne fordert Elefterio ein Umdenken: „Insbesondere Saluschnyjs bahnbrechendes Interview soll alle – insbesondere die westliche Öffentlichkeit und Meinung – dazu bringen, sich mit dem vollen Ausmaß der vor uns allen stehenden Herausforderung auseinanderzusetzen.“ Es gebe „keinen Ersatz für Klarheit und Realismus, insbesondere in Zeiten des Krieges – oder der Vorkriegszeit , was unsere Situation ist. Wohlfühlnarrative mögen in entscheidenden Momenten ihren psychologischen Nutzen haben, aber sie können kontraproduktiv sein, wenn sie uns daran hindern, das wahre Ausmaß der bevorstehenden Gefahren zu erkennen.