Ein bisher geheimes Zusatzpapier zum Koalitionsabkommen 2017, ein Sideletter, enthüllt, wie sich ÖVP und FPÖ Posten aufgeteilt haben, und wie sie sich abgestimmt haben bezüglicher ihrer politischen Projekte. Das Papier ist mit fünf Seiten wesentlich kürzer als das 182 Seiten lange Koalitionsabkommen, war aber für das Funktionieren der Koalition wohl nicht mindestens so wichtig. Immerhin geht es darin um Postenvergaben, Kammern, Budgetvollzug und ORF.

Im Sideletter war die gesamte Legislaturperiode durchgeplant. Er reicht als bis in das Jahr 2022. Bis dahin hätte die türkis-blaue Koalition bestanden, wäre sie nicht an “Ibiza” zerbrochen. Jede Seite trägt am Ende die Unterschriften von Kurz und Strache. Die Existenz des Sideletters war bisher kein Geheimnis. Nun ist auch sein Inhalt bekannt.

Kurz-Sprecher: "Ohne solche Vereinbarungen ist Zusammenarbeit schwer möglich"

Dem ORF und “profil” konnten Einsicht in das Dokument gewinnen. Ein Sprecher von Ex-Kanzler Sebastian Kurz teilte dem ORF dazu mit: “Es ist bekannt, dass solche Abkommen zwischen Regierungspartnern üblich sind. Es gab diese Vereinbarungen zwischen ÖVP und FPÖ genauso, wie zwischen ÖVP und den Grünen. Zuvor wohl auch mit der Sozialdemokratie. Ohne klare Vereinbarungen zu Inhalten und Personalia wäre eine reibungslose Zusammenarbeit schwer möglich.”

Die bekannt gewordenen Inhalte betreffen sämtliche Posten in der Justiz: Als neue Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) legen die ÖVP-FPÖ-Verhandler fest: “Bis zum 31.12.2019 Brigitte Bierlein (FPÖ), ab 1.1.2020 Christoph Grabenwarter (ÖVP).” Am 23. Februar 2018 wurde dann tatsächlich Bierlein erste VfGH-Präsidentin, blieb es aber nur bis zum Juni 2019, als “Ibiza” die türkis-blaue Regierung zu Fall brachte. Ihr folgte dann Christoph Grabenwarter.

Brigitte Bierlein war als VfGH-Präsidentin für die FPÖ vorgesehen – so kam es auch. APA/HANS KLAUS TECHT

Postenvergabe in der Justiz, der Österreichischen Nationalbank und dem ORF geplant

Auch die anderen frei werdenden Mitglieder des VfGH werden festgelegt, darunter VfGH-Richter Andreas Hauer – mit “(FPÖ)” vermerkt. Für den ehemaligen Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) war bereits ein Posten als Mitglied des Gerichtshofes vorgesehen, ebenso “Krone”-Kolumnist und Anwalt Tassilo Wallentin, der aber später nicht als Höchstrichter aufrückte, sondern der Wiener Rechtsanwalt Michael Rami.

Sämtliche andere Posten in der Justiz werden ebenfalls aufgeteilt, vom Gerichtshof der Europäischen Union über den Verwaltungsgerichtshof (VwGH), wo die ÖVP den Präsidenten stellen sollte und die FPÖ einen Vizepräsidentenposten, bis zum Europäischen Rechnungshof, den die FPÖ hätte beschicken sollen. Bei der Österreichischen Nationalbank konnte die ÖVP zwischen Gouverneur oder Präsident wählen. Am 1. September 2018 wurde Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer (ÖVP) Präsident der Nationalbank. Als Gouverneur wurde von der FPÖ Robert Holzmann nominiert.

WKÖ-Präsident Harald Mahrer wurde schließlich auch noch Präsident der Österreichischen Nationalbank. APA/GEORG HOCHMUTH

Planungen bis hin zu Kopftuchverbot und zur Bundespräsidentenwahl 2022

Sogar für die Bundespräsidentschaftswahl 2022 war eine “Abstimmung” bis Dezember 2021 vorgesehen. Auch dass die ÖVP Aufsichtsrat und Vorstand der Österreichischen Beteiligungsgesellschaft, heute ÖBAG, nominieren sollte war vorgesehen – und umfangreiche Vereinbarungen zur Zukunft des ORF. Das Thema war den damaligen Regierungsparteien offensichtlich weit wichtiger, als das offizielle Regierungsprogramm vermuten ließ, das nur von einer “Erarbeitung von Leitlinien für ein ORF-Gesetz NEU”. Das Zusatzpapier spricht klar von der Abschaffung der GIS-Gebühren und eine Budgetfinanzierung des ORF: “Es gibt Einvernehmen darüber, dass die ORF-Gebühren unter Voraussetzung budgetärer Machbarkeit in das Budget des Bundeshaushaltes übergeführt werden. Den Zeitpunkt vereinbaren die beiden Koalitionspartner gemeinsam.”

Weitere politische Maßnahmen waren mit Landtagswahlterminen verknüpft. Das Kopftuchverbot sollte “bis spätestens 2020 eingeführt oder in Abstimmung im Hinblick auf die Wiener Landtags- und Gemeinderatswahlen” kommen. Es wäre demnach Thema im Wiener Wahlkampf gewesen. Die Zustimmung zum Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (CETA) wollte man hingegen aus einem Wahlkampf heraushalten, weshalb das Abkommen zwischen den Landtagswahlen in Salzburg im April 2018 und dem österreichischen EU-Ratsvorsitz ab Juli 2018 ratifiziert werden solle – und so kam es auch: Am 13. Juni 2018 stimmte der Nationalrat dem Abkommen zu.

Klare Aufteilung auch zwischen ÖVP und Grünen

Dem ORF liegen ebenso Teile des Sideletters zwischen ÖVP und Grünen vor. Auch in der neuen Koalition haben sich die beiden Regierungsparteien auf Nominierungsrechte für Höchstgerichte, den ORF-Stiftungsrat, die Nationalbank oder die beiden Vorstände der Finanzmarktaufsicht (FMA) “vorbehaltlich möglicher Änderungen aufgrund von Reformen” geeinigt. Die ÖVP erhält laut Sideletter „bis zu 1/3 der Aufsichtsratsmandate“ im Bereich der Infrastrukturbeteiligungen (ÖBB, ASFINAG, SCHIG), die Grünen wiederum würden “1/3 der Aufsichtsratsmandate in den Unternehmensbeteiligungen” erhalten.