Öffentlich spricht Kiew nicht darüber. Das Thema ist wohl zu makaber. Offensichtlich sind die Sicherheitsvorkehrungen: Wann auch immer Wolodymyr Selenskyj das Land verlässt, wird das zuvor tunlichst geheim gehalten. Leibwächter hat der ukrainische Präsident beständig um sich. Das alles kommt nicht von ungefähr.

Russische Blogger und Nationalisten fordern schon längst, ihren Hauptfeind ins Visier zu nehmen. In den ersten Wochen nach der Invasion im Februar 2022 soll es tatsächlich mindestens ein Dutzend Attentatsversuche russischer Sabotage- und Geheimdienstteams auf Selenskyj gegeben haben, berichtete sein Berater Michail Podolyak. Was die Ukraine tut, wenn ihr Präsident bei einem Anschlag getötet werden sollte, das wird offiziell nicht verlautbart. Einzelne Stellungnahmen und Interviews geben aber darüber Aufschluss.

Es gibt Pläne, über die öffentlich nicht gesprochen wird

US-Außenminister Antony Blinken meinte im vergangenen Jahr gegenüber CBS News: „Die Ukrainer haben Pläne – über die ich nicht sprechen oder auf die ich näher eingehen werde – , um sicherzustellen, dass es das gibt, was wir ‚Kontinuität der Regierung‘ nennen würden.“

US-Außenminister Antony Blinken hält sich bedeckt. Er verrät nur so viel: Im Falle einer Tötung Selenskyjs hat die Ukraine einen Plan.APA/AFP/POOL/LEAH MILLIS

Formal ist alles in der Verfassung geregelt: „Wenn der Präsident seinen Pflichten nicht nachkommen kann, übernimmt der Vorsitzende der Werchowna Rada [des ukrainischen Parlaments] seine Verantwortung“, sagte Mykola Knyazhytsky, ein Oppositionsabgeordneter aus Lemberg gegenüber „Politico“. „Daher gäbe es kein Machtvakuum.“

Voraussichtlich Regierungsrat mit Selenskyjs Führungsteam

Der Vorsitzende der Werchowna Rada ist Ruslan Stefantschuk, Mitglied von Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“. In den Meinungsumfragen genießt er keinen besonders hohen Vertrauenswert. Es sind rund 40 Prozent, weniger als die Hälfte von Selenskyj. „Aber ich glaube nicht, dass es wichtig ist“, meint Adrian Karatnycky, Senior Fellow am Eurasia Center des Atlantic Council. „Es gibt ein starkes Führungsteam und ich denke, wir würden eine kollektive Regierung sehen“, fügte er hinzu.

Rusland Stefantschuk ist zurzeit nicht annähernd so populär wie Selenskyj.APA/AFP/STEPHANE DE SAKUTIN

Ein Regierungsrat würde höchstwahrscheinlich bestehen mit Stefantschuk als Galionsfigur an der Spitze. Darüber hinaus würden ihm Andrii Jermak, der ehemalige Filmproduzent und Anwalt, der das Büro des Präsidenten leitet, Außenminister Dmytro Kuleba und Verteidigungsminister Oleksij Resnikow. Walerij Saluschnyj würde der oberste General des Landes bleiben.

Polit-Experte: Ukraine geeint, auch ohne Selenskyj

Karatnycky unterstreicht: „Das Land hat einen Punkt erheblicher Solidarität und nationaler Einheit erreicht. Wenn Selenskyj also etwas Schreckliches zustoßen würde, wäre das nicht so entscheidend sein, wie Sie vielleicht denken. ” Die Ukraine habe „eine ausgefeilte“ administrative, militärische und diplomatische Maschinerie geschaffen. „Ich möchte nicht sagen, dass Selenskyj in dieser Angelegenheit kaum irrelevant ist“, fügte er hinzu. „Aber ich denke, die Einheit des Landes ist das Unverzichtbare.“

Wolodymyr Selenskyj bei den Dreharbeiten zur Fernsehserie „Diener des Volkes“.APA/AFP/Sergei SUPINSKY

Sicherlich sei Selenskyjs ein psychologischer Schock, meint Karatnycky. Putins Angriff habe unbeabsichtigt dazu beigetragen, ein neues starkes Gefühl der ukrainischen Nationalität zu schaffen. Die Öffentlichkeit sei „hinsichtlich ihrer Ziele“ einig. „Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Schlüsselfaktoren im Kampf der Ukraine gegen die russische Aggression die Widerstandsfähigkeit der Streitkräfte, die Fähigkeit ihrer Führung und Siege an der Front sind“, sagte Knyazhytsky, der oppositionelle Gesetzgeber. „Das ist das Wichtigste für die politische Stabilität der Ukraine.“

Ukrainer sehen ihren Präsidenten mit seine Stärken und Schwächen

Die Sicht der Ukrainer auf Selenskyj sei ausgewogen. Kurz vor der Invasion war sein Stern bereits im Sinken. Die Hoffnungen, er könnte die Korruption bekämpfen und das Land einen, hatten sich bis dahin nicht erfüllt. Nun wird der Präsident generell für seine gute Führung seit der Invasion gelobt, auch wenn er sich darauf nicht genügend vorbereitet hat.

Die Evakuierungsangebote der Amerikaner vor Beginn der Invasion hatte Selenskyj abgelehnt mit der Bemerkung: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“ Die Ukrainer schätzen ihn dafür, ohne seine Fehltritte und Schwächen auszublenden, wozu auch eine dünne Haut gegenüber jeglicher Kritik gehört.