Wurde Israel von dem aktuellen Konflikt überrascht?

Leider ja. Eigentlich war er absehbar. 

Inwiefern?

Es standen Wahlen in den Palästinensischen Autonomiegebieten an, und Mahmoud Abbas und seine Fatah-Partei waren sehr unpopulär. 80 Prozent der Palästinenser halten Abbas für korrupt, wie wiederholte palästinensische Umfragen in den vergangenen drei Jahren ergaben. Die Dinge standen so schlecht, dass sich seine eigene Fatah-Partei in drei Listen aufspaltet hat, um getrennt bei der Wahl anzutreten. Bei den letzten Wahlen 2006 gewann die Hamas sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland die Mehrheit der Sitze. Jeder wusste, dass Abbas auch diese Wahlen verlieren würde. Also unterdrückte Abbas einfach die Demokratie, sagte die Wahl ab, und verkündete, Israel sei Schuld, weil es keine Wahlen in Jerusalem zulassen würde. Diese Begründung war Unsinn und alle Palästinenser wussten das. In nicht-staatlichen palästinensischen Zeitungen und in den sozialen Medien sagten alle Palästinenser: Die Wahlen müssen stattfinden. Indem Abbas die Demokratie mit Füßen trat, hat er jegliche Legitimität in seinem eigenen Volk verloren. Seine Popularität lag auf einem historischen Tiefstand. Er brauchte einen Konflikt, um die Wut von ihm ab- und auf Israel hinzulenken. Also organisierte er künstlich die Krise um Jerusalem.

Fatah rief "die Schlacht aller Schlachten" in Jerusalem aus

Indem er was tat?

Er und seine Partei riefen zur Gewalt auf. Die Fatah rief dazu auf, “das Niveau der Konfrontation in den kommenden Tagen und Stunden in den palästinensischen Gebieten zu erhöhen.” Abbas’ Sprecher sagte den Palästinensern: “Die Schlacht aller Schlachten ist hier … der lange Kampf gegen eine satanische kolonialistische Macht.” Der Revolutionsrat der Fatah rief “alle Fatah-Zweige überall dazu auf, zu handeln, um unser Volk im besetzten Jerusalem zu unterstützen, das gegen die unaufhörlichen Verstöße der Besatzungsbehörden kämpft.” Abbas benutzte in seinen TV-Ansprachen den schon häufig verwendeten Euphemismus des “friedlichen Volkswiderstandes”, mit dem er Terroranschläge gegen israelische Zivilisten bezeichnet. Die palästinensische Öffentlichkeit verstand es und begann, Israelis in Jerusalem anzugreifen. 

Das war allein war Ursache für die Eskalation?

Die Palästinenser griffen schon Tage vor der jetzigen massiven Eskalation Juden mit Steinen und Molotowcocktails an. Das Gelände der Al-Aksa-Moschee liegt oberhalb der Klagemauer. Von dort aus konnten sie Steine werfen und die Gläubigen an der Mauer angreifen, wie es in der Vergangenheit schon oft geschehen ist. Große Steine, die die Gläubigen aus 30 Metern Höhe treffen, können tödlich sein.

Randalierer von Häuserkonflikt gar nicht betroffen

Die Medien berichteten über die wachsende Wut der Palästinenser über ein bevorstehendes israelisches Gerichtsurteil betreffend einen Häuserkonflikt in dem Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah. Mehreren arabischen Familien drohte eine Zwangsräumung, falls das Gericht im Sinne der israelischen Seite entschieden hätte. Die Gerichtsentscheidung wurde wegen der Gewalt vertagt. Das spielte keine Rolle?

In den vergangenen Jahren sind viele Gerichtsentscheidungen zu solchen Konflikten ergangen, ohne dass es zu gewalttätigen Reaktionen gekommen wäre. Dieser Fall ist sehr einfach. Alle sind sich einig: Die dortigen Häuser gehören jüdischen Bewohnern, aber die Araber darin haben sich jahrelang geweigert, Miete zu zahlen. Das Gericht entschied: zahlen oder die Häuser müssen geräumt werden. Die aktuelle Gewalt wurde nicht wegen legaler Räumungen entfacht.

Ein jüdischer Bewohner von Sheikh Jarrah sagte in einem Interview: “Ich kenne alle meine Nachbarn, ich lebe hier schon seit vielen Jahren. Nicht einer meiner Nachbarn war an diesen Unruhen beteiligt. Alle Krawallmacher kamen von woanders her.” Was entstand, war eine künstlich inszenierte Dynamik der Gewalt, die Abbas in Gang gesetzt hatte, um sich als Verteidiger Jerusalems zu präsentieren. Das ist eine sich wiederholende palästinensische Strategie: Wenn Hamas und Fatah um Popularität kämpfen, dann indem sie darum wetteifern, wer mehr Gewalt und Terror gegen Israel anführen kann. 

Itamar Marcus gründete 1996 die seither von ihm geleitete NGO Palestinian Media Watch (www.palwatch.org), die palästinensische Medien analysiert

Können Sie weitere Beispiele dafür nennen?

Im Jahr 2014, als die PA das letzte Mal Wahlen im Gazastreifen und im Westjordanland ansetzte, war die Hamas sehr, sehr schwach. In einer Umfrage im April 2014 sagten nur 11,7 Prozent der Palästinenser, dass sie für die Hamas stimmen würden. Als Reaktion darauf entführte die Hamas drei Teenager. Es folgte ein Krieg, den die Hamas verlor, doch ihre Popularität stieg danach wieder an. Im Juli 2014, nach dem Ende des Krieges, sagten in einer Umfrage 31 Prozent, dass sie die Hamas nun positiv sehen, aber nur 20 Prozent sagten das über die Fatah. Wären Wahlen abgehalten worden, hätte die Hamas bei 46 Prozent gelegen. Die Zustimmung zur Hamas verdreifachte sich, weil sie einen Raketenkrieg gegen Israel geführt hatte. 2014 musste Abbas dann mit der Hamas konkurrieren und initiierte eine Messer-Intifada, indem er behauptete, Jerusalem würde von Israel angegriffen. Daraufhin stieg seine Popularität wieder. Hamas und Fatah kämpfen um mehr Popularität, indem sie Terror gegen Israel entfesseln.

Hamas konnte nicht zusehen, wie Abbas populär wird

Jetzt steht aber die Fatah im Hintergrund. Die Raketenangriffe kommen aus dem Gaza-Streifen. Warum ist die Hamas auf einmal der Hauptgegner?

Die Hamas konnte nicht ruhig dasitzen und zusehen, wie Abbas durch den Konflikt populär wurde. Schon letzte Woche hat die Hamas einige Raketen auf Israel abgefeuert und viele Brände in Israel gelegt. Die offizielle Tageszeitung der PA kritisierte das: “Dieser historische Moment darf nicht darunter leiden, dass [von der Hamas] die Aufmerksamkeit vom Aufstand in Jerusalem ‚durch Geräusche von Raketenexplosionen‘ abgelenkt wird.” Zu dieser Zeit gab es bereits kleinere Gewalttaten in Jerusalem, und Hamas und Fatah konkurrierten bereits mit Terror. Als Hamas vor zwei Tagen wieder Hunderte von Raketen abfeuerte, verkündete sie zum ersten Mal, dass sie Israel angreift, um Jerusalem zu verteidigen. Nie zuvor hat Hamas behauptet, ihre Raketenangriffe dienten der Verteidigung Jerusalems, aber jetzt behaupten sowohl Hamas als auch Fatah – um populär zu sein – sie seien diejenigen, die Jerusalem verteidigen.

Israel hat nun erklärt, es werde die terroristische Infrastruktur der Hamas aus der Luft bekämpfen. Wie lange wird der Krieg dauern?

Hamas hat Zehntausende von Raketen im Gaza-Streifen gelagert. Hoffentlich weiß Israel, wo sie sind und wird die meisten davon zerstören. Israel hat auch angekündigt, jene Fabriken zu zerstören, die die Hamas-Raketen herstellen. Wenn Israel das in ein paar Tagen schafft, wird der Krieg zu Ende sein. Sobald ein Krieg jedoch beginnt, nimmt er eine Eigendynamik an. Zum Beispiel hat gestern eine Hamas-Rakete eine israelische Schule getroffen, aber glücklicherweise war sie geschlossen. Hätte dort Unterricht stattgefunden, wären wahrscheinlich alle Schüler getötet worden und Israel hätte keine andere Wahl gehabt, als einen Bodenangriff zu starten, um die Hamas vollständig zu zerstören. Hoffentlich wird so etwas nicht passieren.

Internationale Medien übernehmen Anti-Israel-Narrativ

Wie beurteilen Sie die derzeitige Kritik der internationalen Gemeinschaft an Israel?

Jedes Mal, wenn Fatah oder Hamas eine Terrorwelle starten, tun sie so, als würden sie auf die israelische Aggression reagieren und als wären sie selbst die Verteidiger. “Sie stehlen unser Land und bringen uns um. Helft uns!”, rufen sie. Die internationale Gemeinschaft übernimmt bereitwillig das Narrativ, dass Israel die Schuld trägt. Das geht schon die ganze Zeit so. Im Jahr 2014 erzählte Abbas seinem Volk wortwörtlich, Israel plane, die Al-Asqa-Moschee zu zerstören, weil sie auf dem Tempelberg gebaut sei. Fünfzig Prozent der Palästinenser glaubten ihm, und sie gingen hinaus und starteten einen Terrorkrieg. Und doch schiebt die internationale Gemeinschaft, insbesondere die internationalen Medien, die Schuld auf Israel. Die internationalen Medien sympathisieren nur dann mit Israel, wenn Israelis ermordet werden. Aber wie Sie an Israels Verhalten jetzt sehen können, ist es uns wichtiger, uns zu verteidigen und das Leben unseres Volkes zu retten, als die Sympathie der Medien zu haben.

Itamar Marcus hält regelmäßig Vorträge vor Parlamenten und Regierungen und gilt als eine der führenden Experten für palästinensische Politik. Er war Co-Autor des Buchs “Deception: Betraying the Peace Process” (2012), das Robert Bernstein, Gründer von Human Rights Watch, als “eines der wichtigsten Bücher, die Sie in Ihrem Leben in die Hand nehmen”, bezeichnet hat. 2007 veröffentlichte er gemeinsam mit der damaligen Senatorin Hillary Clinton einen Bericht über die neuesten PA-Schulbücher.