Der vor kurzem verstorbene österreichische Großdenker Rudolf Burger ist schon am Anfang dieses Jahrtausends dem gedankenlosen und zur Routine erstarrten Holocaust-Gedenkwesen kritisch entgegengetreten und hat es mit scharfen Worten wie „mumifiziertes Gedenken“, „Kleingeld der Politik“ und „antifaschistischer Karneval“ aggressiv herausgefordert. Naturgemäß, der Diskurskultur unserer Zeit entsprechend, ist er von scholastischen Kleingeistern der hiesigen Provinzpolitologie des Antisemitismus verdächtigt und abgeurteilt worden. Für Burger war das rezente Holocaustgedenken in vielen Fällen nicht mehr als ein Mediengeschäft und ein Diskursverfahren, mit dem auf einfache Art rhetorische Wirkungstreffer mit Langzeitfolgen erzielt werden können.

Empörung über den Kanzler statt über die Raketen

Wie wenig die Gedenk- und Sühnerituale der letzten Jahrzehnte gebracht haben, zeigt sich an der gegenwärtigen Diskussion über den terroristischen Überfall der aus dem Iran gesteuerten Hamas auf Israel. Ein Teil der klammheimlich BDS-affinen Twitter-Linken brauste empört auf, aber nicht wegen des Raketenbombardements auf den jüdischen Staat, sondern weil der österreichische Bundeskanzler aus Solidarität eine israelische Fahne am BKA aufziehen ließ. Dem anderen Teil, sonst immer begierig jeden Mikroanlass zur moralischen Entäußerung aufzugreifen, hat es überhaupt die Rede verschlagen. Offensichtlich versucht man die Situation schweigend auszusitzen.

Antisemitismus ist keine allein rechte Angelegenheit

Die Linke liebt nur tote Juden, deren Vernichtung durch die Nazis man einmal jährlich mit Trauergesicht und Protesttafel in der Hand medienwirksam gedenken kann. Weniger mag man die lebenden, eigensinnigen, mündigen und selbstbestimmten Juden, die ihre Entscheidungen treffen, ohne zuerst bei der Sozialistischen Internationale anzurufen und um Erlaubnis zu bitten. Aus diesem Grund schweigen in Österreich die Bundes- und die Wiener Roten zur Situation im Gazastreifen, die Wiener wohl deshalb, weil man die AKP-nahe türkische Wählerschaft nicht vergrämen will, für die man sogar Landtagsmandate hingegeben hat.

Antisemitismus ist keine allein rechte Angelegenheit. Sozialdemokraten wie Renner, Helmer oder Sever waren Judenhasser. Während Renner sein Ressentiment in antijüdischen parlamentarischen Tiraden Ausdruck verlieh, war es Helmers Meisterstück, die Rückstellungsverfahren von arisierten Vermögen in die Länge zu ziehen. Und gegenwärtig sind es vor allem junge Linke, wie die deutschen Jusos, die lieber mit der extremistischen Fatah Jugend kooperieren, als Solidarität mit dem von allen Seiten bedrängten Staat Israel zu üben.

Die Linke ist völlig opportunistisch geworden

Die geistigen Brandstifter der neuen Welle des Israelhasses und des Antisemitismus kommen aber aus der Wissenschaft. So relativieren sogenannte Poststrukturalisten und Postkolonialisten nicht nur den Holocaust, sie verbreiten auch krudeste Theorien, um die Existenz Israels zu delegitimieren.

Die Israel-Boykott-Ikone Judith Butler schwafelt von der jüdischen Diaspora als „antiidentitärem Projekt“. Die Existenz Israels würde sich schon aufgrund der diasporischen jüdischen Ethik verbieten. Der umstrittene Achille Mbembe bezeichnet Israel als „nekropolitischen“ Staat, also als Vernichtungsstaat, der „Todeswelten“ produziert und liefert eine Neuauflage der alten antisemitischen Ritualmordlegende. Er wirft Israel vor, dass es sich zum Opferstaat mache, dadurch zum hasserfüllten Kollektivsubjekt werde, das nicht damit aufhören könne, die eigene Vergangenheit immer wieder aufzuführen, indem es anderen die Grausamkeiten zufügt, die es früher selbst erleiden musste.

Anhand von alldem zeigt sich: der Hauptgrund der neuen Welle des Antisemitismus, die uns gerade überrollt, sind nicht alleine die alten Rechten oder zugewanderte Muslime, sondern vor allem eine völlig opportunistisch gewordene Linke, die für ein paar Stimmen, wie Baldanders aus dem Simplizissimus, jede beliebige Form annimmt, selbst wenn es ein Kuhfladen sein müsste. Und eine total durchgedrehte Wissenschaft, die mit einem Geschwurbel von beliebig aus den Werken von Freud, Marx, Heidegger, Derrida, Foucault etc. herausgerissenen Wortfetzen, alles nach Bedarf legitimiert oder dekonstruiert, wie es ihr gerade passt.

Und die Saat der Polit-Opportunisten und der akademischen Hetzer gegen Israel geht auf, beim linken WDR. Dort twittert ein Redakteur am 11.5. gegen Leute, die sich mit Israel solidarisieren: „Och nö! Lieber Gott, mach die ollen Philosemiten tot!“.

Der Jugendforscher und eXXpress-Kolumnist Bernhard Heinzlmaier untersucht seit mehr als zwei Jahrzehnten die Lebenswelt der Jugend und ihr Freizeitverhalten. Er kennt die Trends, vom Ende der Ich-AG bis zum neuen Hedonismus und Körperkult, bis zu Zukunftsängsten im Schatten von Digitalisierung und Lockdown. Heinzlmaier ist Mitbegründer und ehrenamtlicher Vorsitzender des Instituts für Jugendkulturforschung. Hauptberuflich leitet er das Marktforschungsunternehmen tfactory in Hamburg.