Nächst meiner Wohnung findet sich eine kleine, sympathische Buchhandlung. In der Auslage liegt seit einigen Tagen das Buch „Die Selbstgerechten“ von Sahra Wagenknecht. Ich habe schon viel über das Buch gelesen und die Hörbuchausgabe zu Hause. Ich werde aber nicht hineingehen, um das Buch zu kaufen. Warum? Schlechte Erfahrungen.

Vor einem Jahr präsentierte die Buchhandlung ähnlich prominent das Buch „Der Staat an seinen Grenzen“ von Thilo Sarrazin. Ich suchte den Laden auf und verlangte nach dem Buch. Was dann folgte, war bizarr. Die Verkäuferin übergab mir den verlangten Artikel mit der herrisch gestellten Frage: „Warum kaufen sie ein solches Buch?“. Etwas irritiert antwortete ich, „weil ich wissen will, was drinnen steht“. Sie: „Da genügt es aber auch, den Klappentext zu lesen.“ Damit war ich abgefertigt. Ich bezahlte und trollte mich wie ein ertappter Kryptofaschist davon. Ich habe den Laden nie wieder betreten.

Das Wagenknecht-Buch werde ich in einem mehrstöckigen Buchsupermarkt auf der Mariahilfer Straße kaufen. Das dichte Kundenaufkommen und der damit verbundene Arbeitsdruck schränkt die Möglichkeit des Personals beträchtlich ein, sozialen Kontrolldruck aufzubauen.

Keiner ist vor linken Haltungsvorschriften gefeit

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Normen und Regeln nicht mehr mit polizeilicher Gewalt durchgesetzt werden. Heute wird subtiler geherrscht. Konformismus wird mit Hilfe von weit dehnbaren, wolkigen Konventionen erzeugt, die mit informellem Druck und hinterhältigen Intrigen durchgesetzt werden. Wie obiges Beispiel zeigt, wird auch immer wieder zu ausgeklügelten feinen Interventionen gegriffen, die das Gegenüber an einen imaginären Pranger stellen. Passiert die Zurechtweisung vor Zusehern, wird es gerne gesehen, wenn der Verräter an der Wahrheit und am Guten vom Publikum verbal angespuckt wird.

Die jakobinischen Wohlfahrtsausschüsse tagen und agieren heute ständig und überall, ob in Medienunternehmen, an Universitäten, in Schulen und auch auf Partys oder in Kaffeehäusern, wo neuestens Aktivistinnen der Gruppe „Omas gegen rechts“ oder der Kinderkreuzzugsbewegung „Fridays for Future“ sich ungefragt in Gespräche einschalten und emotional-verbal aufzuräumen versuchen.

Auch wer Gutes tun will, ist nicht mehr davor gefeit, ein paar stramme linke Haltungsvorschriften um die Ohren geknallt zu bekommen. Käufer der Obdachlosenzeitschrift Augustin wissen, wovon ich rede. Während das Hamburger Pendant „Hinz und Kunzt“ ein seriös gemachtes Magazin ist, in dem vor allem die Betroffenen zu Wort kommen, ist der Wiener Augustin eine Kampfschrift, gestaltet von Linksliberalen und Altkommunisten und einem Verein, der, würde es ihn geben, nur „Christen für den Leninismus“ heißen könnte. Zwischendurch dürfen sich Bobo-Künstler oder Wissenschaftler, die zur Soziologie des Fahrrads publizieren, selbstdarstellen.

Am mühsamsten von allen ist ein Funktionär der Diakonie, der in jeder Ausgabe der Zeitschrift meint, der Leserschaft „einschenken“ zu müssen. Zuletzt philosophierte er ausführlich über die „Kulturversessenheit“ der Österreicher. Im Stil von „Materialismus und Empiriokritizismus“ von Lenin, eine Schrift aus dem Jahr 1909, erläuterte er, dass sämtliches Denken und Handeln der Menschen alleine eine Widerspiegelung ihrer sozialen Lage sei, kulturelle Einflüsse werden als bedeutungslos abgetan.

Politisch-ideologische Ziele

Die Intention ist klar. Problemgruppen der Migration sollen aus dem kritischen Diskurs genommen werden, vor allem jene, die unter dem Einfluss des Islam stehen. Zuhauf verfügen wir über Studien, die nachweisen, dass unter Muslimen die Zahl der Antisemiten überproportional hoch ist, dass Jugendliche aus migrantischen Familien weniger gewaltsensibel sind und im Alltag auch mehr Gewalterfahrungen machen und dass Mädchen und junge Frauen vor allem in muslimischen Familien unterdrückt und kleingehalten werden. Und wir wissen auch, dass Migranten in Österreich sich über alle Schichten und Milieus hinweg verteilen, also keineswegs ausschließlich zu den Armen und Unterprivilegierten gehören.

Menschen bilden Erfahrungsgemeinschaften. Kollektive Erlebnisse werden aufgeschrieben und über Generationen weitergegeben. Gemeinsame ästhetische Konzepte, Sprache, Religion und Geschichte prägen Weltdeutungsmuster, Werthaltungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Alles zusammen nennt man Kultur. Wer das alles leugnet, hat entweder keine Ahnung oder ein politisch-ideologisches Ziel. Ich vermute im vorliegendem Fall Zweiteres.

Der Jugendforscher und eXXpress-Kolumnist Bernhard Heinzlmaier untersucht seit mehr als zwei Jahrzehnten die Lebenswelt der Jugend und ihr Freizeitverhalten. Er kennt die Trends, vom Ende der Ich-AG bis zum neuen Hedonismus und Körperkult, bis zu Zukunftsängsten im Schatten von Digitalisierung und Lockdown. Heinzlmaier ist Mitbegründer und ehrenamtlicher Vorsitzender des Instituts für Jugendkulturforschung. Hauptberuflich leitet er das Marktforschungsunternehmen tfactory in Hamburg.