Die Welt wird von anhaltenden Konflikten heimgesucht. Die Ursache ist eine Führungskrise: Es fehle an Führungspersönlichkeiten, die noch das politische Handwerkszeug beherrschen, klagt der legendäre Ex-US-Außenminister Henry Kissinger.

Mit überraschend deutlichen Worten kritisiert der mittlerweile 100 Jahre alte Spitzen-Diplomat die jetzige Politik: „Die Führer der Welt haben versagt“, sagt er im Interview mit der NZZ. „Sie haben es nicht geschafft, die übergeordneten Konzepte, die Grundlagen und das Tagesgeschäft von Politik zu beherrschen. Die Gesellschaften müssen einen Weg finden, ihre Probleme zu lösen, ohne ständig eine Reihe von Konflikten zu haben.“ Mittlerweile haben wir „eine Zeit ständiger Auseinandersetzungen hinter uns, die zu großen Kriegen geführt und einen Großteil unserer Zivilisation zerstört haben.“

Kissinger (r.) zu Besuch bei Präsident Wladimir Putin (l.) im Jahr 2015. Zurzeit wisse man nicht, was Russland eigentlich will, kritisiert der Top-Diplomat.Sasha Mordovets/Getty Images

Versöhnung zwischen China und USA notwendig

Dass China angesichts zahlreicher Krisenherde auch noch Taiwan angreift, bezweifelt Kissinger. „Ich denke, dass China nicht bereit ist für einen solchen Konflikt.“ Seiner Meinung nach sollte Washington nun die Beziehungen zu Peking aufbauen. „Die USA sollten sich mit China versöhnen.“ Doch angesichts des jetzigen Führungspersonals erscheint das momentan offenbar als schwer. Man müsse nämlich aufpassen, wie Kissinger meint, ob sich auf der Seite der USA mittlerweile eine Haltung entwickelt hat, die „dies nicht unmöglich macht“.

Von einer Verbesserung der chinesisch-amerikanischen Beziehungen hänge auch die Fähigkeit der USA ab, andere Mächte wie Russland aus dem Nahen Osten entweder „zu verdrängen oder dazu zu ermutigen, eine positive Rolle zu spielen. Auch hier schlage sich das Problem nieder, dass sich die chinesisch-amerikanischen Beziehungen nicht verbessern. Der fehlende Austausch mit Moskau verschärfe das Problem. „Die größte Schwierigkeit in Bezug auf Russland besteht momentan darin, dass wir nicht einmal wissen, was sie denken. Weil es überhaupt keinen Dialog mit Russland gibt.“

Als Sonderberater von US-Präsident Richard Nixon trieb Kissinger die Annäherung an China selbst voran. Im Bild: Kissinger (l.) schüttelt Chinas damaligem Premierminister Zhou Enlai (r.) bei einem geheimen Treffen am 9. Juli 1971 in Peking die Hand.APA/AFP/CONSOLIDATED NEWS

Israel sollte mit arabischer Welt verhandeln, nicht mit Palästinensern

Der Ukraine-Krieg dürfte sich auch auf Russlands Haltung im Nahen Osten niedergeschlagen haben. Zuvor „stand Russland in der Konfrontation mit den Arabern im Allgemeinen auf der Seite Israels.“ Nun könne es entweder Vermittler sein oder sich auf der Seite der Araber positionieren. Angesichts des Ukraine-Krieges wäre ersteres „seltsam“.

Kissinger ist auch im hohen Alter bereit, bisherige Prinzipien westlicher Außenpolitik über den Haufen zu werfen, wenn sie nicht mehr zeitgemäß sind. Das machen seine Ansichten zum Nahost-Konflikt und dem jetzigen Krieg zwischen Israel und der Hamas deutlich. An einen israelisch-palästinensischen Dialog glaubt er nicht. „Ich würde Verhandlungen zwischen der arabischen Welt und Israel bevorzugen. Vor allem nach diesen Ereignissen sehe ich nicht, dass direkte Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern wirklich fruchtbar sind.“ Vor allem solange die Hamas in den Konflikt verwickelt ist, sei eine Einigung mit den Palästinensern in weiter Ferne.

Israels ehemaliger Ministerpräsident Ariel Scharon versuchte die Zwei-Staaten-Lösung im Gazastreifen zu testen. Die Folgen erscheinen gegenwärtig als eher katastrophal.APA/AFP/MENAHEM KAHANA

Zwei-Staaten-Lösung wurde von Israel „getestet“ – und alles wurde schlimmer

Ebenso rückt der Top-Diplomat von der ewig bemühten Zwei-Staaten-Lösung ab. Diese sei „keine Garantie dafür, dass sich das, was wir in den letzten Wochen gesehen haben, nicht wiederholt.“ Immerhin wollte ja Israels ehemaliger Ministerpräsident Ariel Sharon die Zwei-Staaten-Lösung im Gazastreifen „testen“, und das ging schief, wie „die Erfahrung der Hamas“ zeigt. Sharon hat den Gazastreifen im Jahr 2005 „quasi unabhängig gemacht“. Doch die Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung: „Das hat die Situation noch viel komplexer gemacht. Die Lage ist in den vergangenen zwei Jahren viel schlimmer geworden, als sie 2005 war.“ Kissinger unterstreicht: „Ein formaler Frieden garantiert keinen dauerhaften Frieden.“

Kissinger bietet wieder einmal einen alternativen Lösungsvorschlag an: „Ich glaube, dass das Westjordanland unter jordanische Kontrolle gestellt werden sollte, anstatt eine Zwei-Staaten-Lösung anzustreben. Eines der beiden Gebiete wäre stets darauf aus, Israel zu stürzen. Ägypten hat sich der arabischen Seite angenähert, Israel wird es in Zukunft daher schwer haben. Ich hoffe, dass es am Ende zu Verhandlungen kommen wird, wie ich sie am Ende des Jom-Kippur-Krieges führen durfte.“