Henry Kissinger verkörpert die „einmalige Kombination aus akademischem Kopf und praktischem Politiker“, meint Prof. Markus C. Kerber auf eXXpressTV. „So etwas hat es noch nie gegeben. Bismarck war alles andere als ein theoretisierender Geist, und auch Metternich ein praktischer Politiker.“ Nur Kissinger war beides: herausragender Wissenschaftler und Politiker. Kerber, der Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaften an der TU Berlin lehrt, tauscht sich gelegentlich schriftlich mit Kissinger aus, kennt überdies alle Schriften des ehemaligen Beraters mehrerer US-Präsidenten und hat auch sämtliche Kissinger-Biographien gelesen. Ungewöhnlich und faszinierend ist bereits Kissingers Karriere.

Kissinger diente sowohl als Spitzendiplomat als auch als Sicherheitsberater der Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford. Seinen deutschen Akzent hat er nie abgelegt.APA/AFP

Ein Harvard-Professor formuliert die Doktrinen der US-Außenpolitik

Am 27. Mai 1923 als Kind jüdischer Eltern im mittelfränkischen Fürth in Deutschland geboren, und 1938 mit der Familie in die USA geflohen, kämpfte Kissinger gegen Ende des Krieges – mittlerweile US-Staatsbürger – gegen Hitler. Nach 1945 wirkte er an der Entnazifierung in Deutschland mit, ohne dabei Rachegelüste oder besondere Strenge an den Tag zu legen. 1947 folgte das Studium der Politikwissenschaft in Harvard und eine blendende wissenschaftliche Laufbahn – und von dort bereits zehn Jahre später der Weg in die Politik. „Kissinger hat aus der Position Professors für internationale Politik Doktrinen entwickelt“, berichtet Markus C. Kerber, „so etwa 1958 mit seinem Buch über Atomwaffen und amerikanischer Außenpolitik. So ist die Politik auf ihn aufmerksam geworden.“

Prof. Markus C. Kerber verfolgt Kissingers Lebensweg schon lange und pflegt auch eine schriftliche Korrespondenz mit dem ehemaligen US-Sicherheitsberater.eXXpressTV

In der Folge hat sich der talentierte Wissenschaftler auch sämtlichen US-Administrationen angedient. 1957 wurde er zunächst Berater des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller, später war er das auch für die US-Präsidenten John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Richard Nixon. Kissinger machte sich dann während der 1970er Jahren mit US-Geheimdiplomatie in China und Vietnam einen Namen .

Kissinger sei ein „Hochbegabter“ mit „unglaublicher Arbeits- und Auffassungsgabe“, meint Prof. Kerber. Eine „einmalige Leistung“ sei es gewesen, die Position als Sicherheitsberater für Nixon auszubauen, und aus ihr heraus „zum Quasi-Außenminister zu werden, zu dem Kissinger zum Schluss auch ernannt worden ist, unter Beibehaltung seiner Funktion als Sicherheitsberater. Das war dann fast nur noch eine Form-Sache.“

US-Präsident Richard Nixon (l.) spricht mit seinem nationalen Sicherheitsberater Henry Kissinger 1972 in Salzburg.APA/AFP
Kissinger (l.) mit US-Präsident Gerald Ford während des NATO-Gipfels 1975 in BrüsselAPA/AFP

Kissingers Leitthema: „Nur Stabilität bringt Frieden“

Eines charakterisiere Kissinger zweifellos bis heute: „Dass er ohne Öffentlichkeit gar nicht bestehen kann. Er braucht die Öffentlichkeit, sie zieht ihn an wie der Honig die Bienen.“ Überdies sei Henry Kissinger „der Intellektuelle Wächter des amerikanischen Imperiums. An der Notwendigkeit der imperialen Rolle Amerikas hat er nie Zweifel gehabt.“ Die Hegemonie der USA unter Anerkennung des Atomwaffenstatus anderer Länder sei ein Leitmotiv Kissingers. Eine Schattenseite sei Kissingers „skrupellose Bereitschaft“ gewesen, „unbeschränkt Gewalt einzusetzen, auch unter dem Vorwand des Anti-Kommunismus“. Kerber erwähnt die Bombardierung des neutralen Landes Kambodscha und den Handschlag mit dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet.

Präsident Jimmy Carter (r.) trifft sich am 15. August 1977 mit Ex-Außenminister Henry Kissinger im Weißen Haus, um über Friedensvorschläge für den Nahen Osten zu sprechen.APA/AFP

Dennoch: Eine der wichtigsten Überzeugungen Kissingers sei, „dass nur Stabilität Frieden bringt, und Instabilität immer eine Quelle von Frieden und kriegerischen Auseinandersetzung ist.“ Zur Stabilität gehöre auch „die Anerkennung des Anderen und seiner Legitimität.“ Das lebte Kissinger vor. „Niemand hat so respektvolle machtpolitische Beziehungen zur Sowjetunion gehalten“, meint Kerber, und verweist auf Kissingers freundschaftliches Verhältnis zu Anatoli Fjodorowitsch Dobrynin (1919-2010), der von 1962 bis 1986 Botschafter der Sowjetunion in den Vereinigten Staaten war. Die beiden waren per Du.

Bis heute hören US-Präsidenten auf seinen Rat. Im Bild: Der texanische Gouverneur und damalige Präsidentschaftskandidat George W. Bush (l.) winkt am 12. Juli 2000 Seite an Seite mit Kissinger (r.) Journalisten auf der Veranda des Gouverneurshauses in Texas zu.APA/AFP/Roberto SCHMIDT

„Kissinger hat seine gesamte Diplomatie aus der Geschichte entwickelt“

Kissingers Haltung stellt hier wohl einen deutlichen Kontrast zur jetzigen US-Administration dar, die im Russland-Ukraine-Krieg offensichtlich einen anderen Ansatz verfolgt. Gleichwohl beweisen Kissingers Aussagen zur Ukraine nicht zum ersten Mal die „Anpassungsfähigkeit“ des ehemaligen US-Diplomaten. Kissingers jüngste Stellungnahmen hält Kerber für „höchst problematisch“.

US-Präsident Donald Trump (r.) schüttelt Kissingers Hand während eines Treffens im Weißen Haus am 10. Oktober 2017.APA/AFP/MANDEL NGAN
Präsident Wladimir Putin (r.) begrüßt Kissinger während ihres Treffens in der Novo-Ogaryovo-Residenz am 6. Juni 2006.APA/AFP/DENIS SINYAKOV

Henry Kissinger habe stets „aus der Geschichte seine gesamte Diplomatie entwickelt“. Deshalb hat er zunächst stets die besonderen Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland betont, immerhin war Kiew einmal Russlands Hauptstadt. 2014 unterstrich der Ex-Diplomat in der „Washington Post“: „Der Westen muss sich daran gewöhnen, dass Russland die Ukraine niemals als ausländisches Land ansehen wird.“ Deshalb stellte er sich gegen einen NATO-Beitritt des Landes.

Kissingers Schwenk betreffend einen NATO-Beitritt der Ukraine

In Folge der Ukraine-Invasion änderte er seine Meinung. So erklärte Kissinger etwa im Jänner 2023 in Davos: Seine bisherige Position sei angesichts des Willens der Ukrainer und der Führungsrolle Selenskyjs nicht mehr sinnvoll. Eine NATO-Mitgliedschaft verbunden mit territorialen Zugeständnissen sei nun erstrebenswert. „Aus sich heraus ist das wenig plausibel“, kommentiert Prof. Kerber. „Der Wille aller Ukrainer einen Nationalstaat zu bilden, ist offenkundig. Das Führungspersonal und der Großteil der bürgerlichen Gesellschaft wollen ein für alle Mal aus der russischen Unterjochung heraus.“ Doch ob man daraus ableiten kann, dass die Ukraine eine Option auf einen NATO-Beitritt hat, das sei eine andere Frage. „Die Ukraine ist weder eine perfekte Demokratie noch ein Rechtsstaat. Zum Image der NATO als Bündnis der Demokratien passt das nicht.“ Vor allem bedeute ein NATO-Beitritt der Ukraine „irreversible Solidarität, wenn die Ukraine angegriffen wird. Das ist keine Eintagsfliege.“ Die NATO würde zur Kriegspartei.

Prof. Markus C. Kerber kritisiert Kissingers jüngste Wende betreffend einen NATO-Beitritt der Ukraine.eXXpressTV

Kissinger dürfte sich wohl der gegenwärtig sehr starken Tendenz zur Aufnahme der NATO gebeugt haben. „Darüber hinaus bietet der Ukraine-Krieg den USA die einzigartige Gelegenheit, das russische Kriegspotenzial abzunützen ohne das eigene Territorium auch nur annähernd zu gefährden.“

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Als Bundeskanzler Karl Nehammer (l., ÖVP) im September 2022 in die USA reiste, suchte Kissinger ebenfalls das Gespräch mit ihm.APA/BKA/DRAGAN TATIC