Wie mit uns alles begann – vom bisher Erzählten ist vieles falsch
Ein neuer Buch-Bestseller stellt gerade das bislang gängige Weltbild zur Entstehung und Entwicklung des Menschen auf den Kopf: “The Dawn of Everything”, im Deutschen unter “Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit” publiziert, erzählt unter anderem von frühen Menschen die in riesigen, längst versunkenen Städten ohne erkennbare Hierarchien zusammenlebten – und das passt so gar nicht in die bisherigen Erzählungen.
Was, wenn all das, was wir über die Anfänge der Menschheit – unsere eigene Geschichte – gelernt haben, falsch ist? Das ist nur eine, aber mit Sicherheit die grundlegendste aller Fragen, die der neue Bestseller “The Dawn of Everything” oder “Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit” aufwirft. Die Autoren, der englische Archäologe David Wengrow und der US-amerikanische Anthropologe David Graeber geben mit ihrem neuen Werk der Menschheitsgeschichte ein längst überfälliges Update, denn die Forschungen der letzten zwei Jahrzehnte haben hochspannende Erkenntnisse zu Tage gefördert, und diese zeichnen teils ein völlig anderes Bild von dem, was seit Jahrzehnten, ja teils seit Jahrhunderten in Lehrbüchern und Lehrplänen auf der ganzen Welt steht.
Unsere Geschichte beruht auf überholter Forschung
Allem voran räumt der Bestseller mit der Annahme auf, dass der Mensch in den mindestens 200.000 Jahren, in der unsere Spezies existiert, eine relativ geradlinige Entwicklung – vom Jäger und Sammler hin zum Landwirt und zum Erbauer von Städten mit komplexen Hierarchien – durchgemacht habe. Das ist falsch. Neuen Forschungsergebnissen zufolge lebten wir schon früher als gedacht in großen Städten, und das in viel dynamischeren Strukturen als ursprünglich angenommen – und das offenbar friedlich und auch ohne klar erkennbare Machtgefälle.
Die Menschheit war immer schon "außergewöhnlich vielfältig"
Archäologische Funde, die dies bestätigen, sind in Fachkreisen längst bekannt. Die Lebensumstände unserer Vorfahren seien immer schon “aussergewöhnlich vielfältig” gewesen, schreiben Wengrow/Graeber.
Faszinierend sind längst versunkene Städte, die nicht in die bisherigen Erzählungen passen und in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der Forschung rückten, beispielsweise im Osten Europas in der heutigen Ukraine. Dort stand vor rund 6000 Jahren die Stadt Taljanky. In den Ausgrabungen von Taljanky fand man keine Hinweise auf hierarchische Strukturen in dieser für damalige Verhältnisse grossen Stadt gefunden hat. Für die mehr als 10.000 Menschen, die laut Schätzungen dort lebten, gab nur Wohnhäuser und einen Marktplatz. Keine Regierungsgebäude, Paläste oder ähnliches – und auch in Grabbeigaben fanden sich keine Hinweise auf besser gestellte Individuen. Und Taljanky ist kein Einzelfund: Ähnliche Entdeckungen gibt es auf verschiedenen Kontinenten, in Asien, Nord- und Südamerika.
Unsere Vorfahren waren nicht primitiv
In ihren Geschichten werden unsere prähistorischen Vorfahren meist auch als primitive Kreaturen dargestellt, obwohl sie das gleiche Gehirn hatten wie wir. Auch das haben Forschungen der letzten Jahre bewiesen: Die Fähigkeit zu abstraktem Denken und kulturellen Handlungen ist um vieles älter, als man lange angenommen hat. Selbst die Neandertaler waren dazu schon fähig.
Wengrow/Graeber bringen zudem ein ganz neues Element in die Diskussion ein. Wichtigen Einfluss auf die europäische Aufklärung hatten auch indigene Denker aus Nordamerika. Sie lebten teilweise in Kulturen ohne nennenswerte Hierarchien und tauschten sich mit jesuitischen Missionaren aus.
Die Berichte dieser Missionare seien im Frankreich des 18. Jahrhunderts bei den Vordenkern der Aufklärung auf grosses Interesse gestossen. So hätten die Natives, schrieben die Missionare, darüber gestaunt, wie blind Europäer Befehle befolgten. Dass diese Gedanken von jenseits des Atlantiks die Denker der Aufklärung beeinflussten, beweisen zeitgenössische Quellen. Doch die europäische Geschichtsschreibung ignorierte das – anders als indigene Historiker – bisher weitgehend.
Kommentare