Es sind Bilder, die unter die Haut gehen. Am Samstag, vor mehr als einer Woche, nahmen Hamas-Terroristen Avinatan Or (30) und seine Freundin Noa Argamani (26) als Geiseln mit. Das Video von ihrer Entführung ging viral. Noa wurde auf dem Motorrad mitgenommen und rief verzweifelt: „Tötet mich nicht!“. Avinatan wurden von mehreren Kidnappern zum Gaza-Streifen gezerrt, die Hände hinter dem Rücken. „Mein Bruder ist ein großer Kerl, zwei Meter groß“, sagte Chaim Or, einer von Avinatans Brüdern, gegenüber dem Sender Channel 12. „Er trainiert viermal pro Woche und ist ein wirklich starker Kerl. Sie hielten ihn fest, mehrere Leute, und führten ihn offenbar einfach in Richtung des Gazastreifens.“

Vom Musikfestival, auf dem Noa und Avinatan zuvor getanzt und gefeiert hatten, zum Gazastreifen sind es nur wenige Kilometer. „Es ist ein 20- bis 30-minütiger Spaziergang“, sagt Tal Barbibay (30) gegenüber dem eXXpress. Die Anwältin ist mit Avinatan und Noa seit vielen Jahren eng befreundet. Nun zittert sie um deren Leben. „Avinatan und ich arbeiteten mehrere Jahre als Sicherheitsleute beim Gericht in Israel. So habe ich damals mein Studium finanziert“, berichtet sie dem eXXpress.

Avinatan Or hat viele Freunde, die nun alle um sein Leben bangen.

Plötzlich tauchten schossen Terroristen in den Morgenstunden auf die Festival-Besucher

Avinatan stammt aus einer großen Familie, hat sechs Geschwister und einen noch größeren Freundeskreis. Er ist sehr beliebt und arbeitet bei einem Video-Unternehmen. Noa studiert noch. Die israelische Staatsbürgerin kam in China zur Welt. Das Paar wollte nach Noas Studienabschluss zusammenziehen und später eine Familie gründen. Vor wenigen Tagen, am 11. Oktober, feierte Noa ihren 26. Geburtstag – unter Umständen, die keiner kennt.

Die Freunde verloren am Tag des Terrors gegen zehn Uhr den Kontakt zu Avinatan. Der Angriff der Hamas-Terroristen hatte dreieinhalb Stunden zuvor begonnen. Avinatan und Noa waren auf dem bekannten „Nova Trance Music Festival“ gewesen, dem viele junge Menschen bereits entgegenfieberten. 4000 waren gekommen um zu raven. Es hatte am Vortag um 18 Uhr begonnen. „Beide hatten Spaß“, berichtet Tal Barbibay.

Kurz vor dem Ende, in den frühen Morgenstunden um 6.30 Uhr, startete der Raketenangriff. Es ertönten die Sirenen. „Daran sind wir gewöhnt“, berichtet Tal. „Zuerst suchten beide Schutz – wie immer. Als der Alarm aufhörte, wollten sie zur Party zurück, doch da begannen die Terroristen aus Autos auf sie zu schießen. Also rannten sie weg.“ Video-Aufnahmen zeigen überdies, wie Terroristen mit Gleitschirmen auf dem Festgelände landeten.

Avinatan und Noa waren bis zuletzt mit Freunden in Kontakt

Via WhatsApp wandten sich beide an einen Freund und baten um Hilfe. Avinatan berichtete, dass gleich neben ihm Menschen ermordet werden. Tatsächlich richteten die Terroristen beim Rave-Festival das größte Massaker an. 260 der jungen Besucher wurden getötet. Avinatan übermittelte seine Koordinaten. „Er erzählte uns, dass er sich mit seiner Freundin in Büschen in der Nähe versteckt hatte“, berichtet Tal. Noa schrieb: „Hoffentlich wird jemand kommen und uns retten“.

Beim Rave-Festival richteten die Terroristen ein besonders großes Massaker an.

Ab zehn Uhr hörten die Freunde nichts mehr von den beiden – weil sie entführt wurden, wie sich wenige Stunden später herausstellte. Die Hamas postete da nämlich das Video, das weltweit auf Titelseiten zu sehen war und in den Sozialen Medien geteilt wurde.

Kurze Zeit später tauchte auf einem Telegram-Kanal ein weiteres Video von Noa auf. Man sieht sie dort – gekleidet mit den gleichen Gewändern – auf einer Matratze sitzen, angelehnt an eine Wand. Sie macht einen Schluck aus einer Flasche.

Seither durchforsten Freunde und Verwandte permanent die Sozialen Medien und suchen nach einem Lebenszeichen. Ihre verzweifelten Eltern wandten sich mehrmals über die Medien an die Öffentlichkeit.

Manche Israelis retteten sich, indem sie die Terroristen töteten

Tal Barbibay kennt mehrere Israels, die auf der Rave-Party waren. Manche retteten sich. Für Tal sind es teilweise „schreckliche Geschichten“, sagt sie. „Einige meiner Freunde nahmen Waffen von toten Terroristen. Mit ihnen konnten sie andere Terroristen töten und fliehen. Das hat sie tatsächlich gerettet. Anderen gelang die Flucht mit ihren Autos. Wieder andere versteckten sich stundenlang hinter den Büschen, bis die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) die Lage wieder unter ihre Kontrolle brachten – nach etwa 20 Stunden. Im Grunde war es ein großes Durcheinander. Ich kenne auch Leute, die getötet wurden.“

Familie und Freunde bitten im Internet um Hilfe

In den ersten Tagen nach dem Großangriff verfolgte Tal Barbibay 24 Stunden lang ununterbrochen die Nachrichten: „Jeder fragt sich, wie das passieren konnte. Darauf haben wir keine Antworten. Darüber müssen wir aber erst reden, wenn alles vorbei ist“, sagt sie. „Wir haben aufgehört, die Toten zu zählen. Im Moment ist es am wichtigsten, unsere entführten Leute nach Hause zurückzubringen.“

„In jeder zweiten Familie in Israel wurde jemand entführt oder getötet“

Israel sei an Konflikte und Kriegssituationen gewöhnt, „aber so etwas ist noch nie zuvor passiert, nicht einmal in unseren größten Kriegen und Albträumen“, berichtet Tal. „Es ist wichtig, dass die Welt weiß, dass wir von Terroristen massakriert wurden. Frauen, Kinder und alte Menschen wurden getötet und entführt, sogar eine alte Frau im Rollstuhl.“

Der bewaffnete Flügel der Hamas, die Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden, betreten die israelische Seite des Zauns in Gaza-Stadt.Hani Alshaer/Anadolu Agency via Getty Images

Über die politischen Konflikte des vergangenen Jahres spreche man nicht mehr. „In jeder zweiten Familie wurde jemand getötet oder entführt. Wir haben jetzt keine Zeit für politische Auseinandersetzungen.“

Das Land erlebe eine sehr große Krise: „Wir hatten die IDF, damit so etwas nicht passiert. Wir müssen uns vor so vielen Feinden schützen. Und das Einzige, was uns angesichts all der Konflikte Sicherheit und ein Sicherheitsgefühl vermittelt hat, waren die IDF. Das ist jetzt verloren gegangen. Wir hätten nicht gedacht, dass wir in eine solche Situation geraten würden.“

Mittlerweile errichten Israelische Verteidigungsstreitkräfte schwer bewaffnete Kontrollpunkte entlang der Grenze.Mostafa Alkharouf/Anadolu via Getty Images

Fast alle hoffen auf eine Zerstörung der Hamas

Nun denken praktisch alle in Israel dasselbe: „Die meisten, wenn nicht alle Menschen in Israel wollen die Zerstörung der Hamas. Ich spreche nicht von unschuldigen Männern, Frauen und Kindern im Gazastreifen, die keine Verbindung zu dieser Terrororganisation haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass es im Gazastreifen viele unschuldige Menschen gibt, die nicht wollen, dass so etwas passiert, und die Frieden mit Israel wollen, denn sie würden davon profitieren. Das sind arme und unschuldige Menschen. Aber wenn wir die Hamas nicht ein für alle Mal zerstören, dann wird so etwas wieder passieren. Wir können nicht noch einmal so viele Menschen verlieren. Das muss gestoppt werden.“

Jahrelang lebten die Israelis mit der Hamas und nahmen Raketenangriffe in Kauf. Das muss nun aufhören, sagen viele.

Auch mit Blick auf die Vergangenheit seien sich die Israelis großteils einig. Die meisten halten „den Rückzug aus dem Gazastreifen für einen Fehler. Absolut.“

Tal Barbibay hat Cousins, die rekrutiert wurden. „In meiner Familie gibt es Soldaten in den IDF. Ich hoffe, sie werden diese Operation überleben.“