Marco Minniti (65) war von Dezember 2016 bis 1. Juni 2018 Italiens Innenminister und hat damals über einen Deal mit Libyen die Migrationszahlen gesenkt. Dafür musste er mit den Stämmen und Milizen in Libyen reden, wie er der “Welt” enthüllt: “Jeder Stamm hatte und hat seine eigene Miliz. Einige von ihnen wurden sogar von der libyschen Regierung offiziell anerkannt und sind somit Teil des Sicherheits- und Verteidigungssystems des Landes geworden.”

Als der ehemalige Geheimdienstchef Innenminister wurde, war die Flüchtlingssituation “außer Kontrolle”, berichtet er: “2016 waren bereits 180.000 Menschen nach Italien gekommen. Für das Jahr 2017 lagen die Prognosen sogar noch höher – bei bis zu 250.000.” Italien suchte das Gespräch mit Libyen.

Bürgermeister in Libyen fürchteten Menschenhändler

Ein großes Problem war die Sahara: “Keine Technologie der Welt kann diese Grenzen kontrollieren. Nur die dort lebenden Wüstenstämme können das tun. Also haben wir sie nach Rom eingeladen”, erzählt Minniti. “Sie kamen, obwohl sie im Krieg miteinander waren und unterzeichneten den Frieden von Rom. Zugleich verpflichteten sie sich, gegen Menschenhändler vorzugehen.”

Ebenso unterstützte Italien die Bürgermeister in Libyen: “Die Menschenhändler machten damals so viel Geld und waren so mächtig, dass die Bürgermeister um ihre Macht fürchten mussten”, erzählt Minniti. “Also trafen wir uns mit den 13 Bürgermeistern der libyschen Städte, die am stärksten vom Menschenhandel betroffen waren. Sie stellten uns Projekte vor, die wir finanzieren sollten: Kindergärten, Krankenhäuser, Hilfsmöglichkeiten für Migranten.” In der Folge finanzierte Italien humanitäre Projekte in den Städten.

Nun sind Russland und die Türkei in Libyen

Mittlerweile scheint der Pakt aber nicht mehr funktionieren: “Ich befürchte, dass niemand mehr mit den Bürgermeistern gesprochen hat, dass die Projekte aufgegeben wurden. Die Stämme führen wieder Krieg gegeneinander. Das Chaos ist zurück, und mit ihm das Geschäft der Schlepper.” Nun steigen auch die Zahlen der Migration über die Mittelmeerroute wieder – und das ist nicht alles. Als Europa begann über die Flüchtlingsverteilung zu streiten, “kamen die Türkei und Russland in Libyen an. Das ist ein epochaler geopolitischer Wandel! Unvorstellbar! Wenn mir jemand 2017 gesagt hätte, dass die Türken und Russen in Libyen ankommen würden, hätte ich es nicht geglaubt.”

Europa habe noch nicht ganz verstanden, dass der zentrale und erweiterte Mittelmeerraum für die Zukunft Europas von entscheidender Bedeutung sein wird. “Europa muss zunächst Tunesien und Libyen einen Migrationspakt und einen Plan für wirtschaftliche Förderungen vorschlagen. Wir müssen sehr schnell handeln. Es darf keine Verzögerung geben.”