Recep Tayyip Erdogan (70) räumte den historischen Sieg der Opposition ein. “Wir haben nicht das Ergebnis erzielt, das wir uns gewünscht und erhofft haben”, sagte er am späten Sonntagabend in Ankara. Er werde “die Entscheidung der Nation respektieren”, man werde nun Selbstkritik üben und Mängel beheben, erklärte er vor seinen – ungewöhnlich stillen – Anhängern. Dies sei aber nicht das Ende, sondern ein Wendepunkt für die AKP.

Nach Auszählung von fast 98 Prozent der Wahlurnen im Land erlitt die islamisch-konservative AKP ihr schlimmstes Wahldebakel seit zwei Jahrzehnten. Die Mitte-Links-Partei CHP wurde laut vorläufigen Zahlen mit 37,6 Prozent landesweit stärkste Kraft, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu nach mehr als 98 Prozent ausgezählter Stimmen. Die AKP kam auf 35,7 Prozent. Sollte sich das Ergebnis offiziell bestätigen, wäre die AKP erstmals seit ihrer Gründung 2002 in einer Kommunalwahl nur zweitstärkste Kraft. Mit der Bekanntgabe der endgültigen Ergebnissen wird im Laufe des Montags gerechnet.

Oppositionschef Özgür Özel sprach von einem “historischen Ergebnis”, das zeige, dass die Wähler eine neue Politik wollten. “Die Wähler haben dafür gestimmt, das Gesicht der Türkei zu verändern”, kommentierte er die Kommunalwahlen. Die Ergebnisse seien eine wichtige Botschaft an die Welt, wo die Demokratie zurückgehe und autoritäre Regierungen im Aufwind seien, befand Ekrem Imamoglu, der wiedergewählte Bürgermeister von Istanbul.

Die Wahl wurde auch als Stimmungstest für Erdogan gewertet, der im vergangenen Jahr erneut zum Präsidenten gewählt wurde. Die hohe Inflationsrate und die wirtschaftliche Lage dürften Erdogans Partei Stimmen gekostet haben.

Erdogan kann Istanbul nicht zurückholen

Der Staatspräsident verfehlte auch sein ausgemachtes Ziel, die politisch wichtige Metropole Istanbul mit ihren 16 Millionen Einwohnern zurückzuholen. Amtsinhaber Ekrem Imamoglu (53) von der CHP gewann laut Andalou nach Auszählung fast aller Stimmen deutlich mit rund 51 Prozent. Er konnte damit an seinen spektakulären Wahlsieg von 2019 anknüpfen und seine Position als möglicher künftiger Präsidentschaftsanwärter stärken. Anders als bei der vergangenen Kommunalwahl 2019 ging Imamoglu nicht mit Unterstützungsversprechen anderer Oppositionsparteien in die Wahl – und entschied sie dennoch für sich. Er ließ sich am Sonntag vor tausenden Anhängern in Istanbul feiern.

Imamoglu gilt als Hoffnungsträger der Opposition. Er hatte Erdogans regierender AKP 2019 die Macht in Istanbul entrissen und damit 25 Jahre der Regierung islamisch-konservativer Parteien beendet. Die AKP ließ die Wahl damals annullieren. In der zweiten Runde gewann Imamoglu mit noch größerem Abstand – der Erfolg galt bisher als schwerster Rückschlag in Erdogans politischer Karriere. In Istanbul hatte einst auch Erdogans politischer Aufstieg seinen Anfang genommen, als er 1994 zum Bürgermeister gewählt wurde.

Erdogan hatte sich im Wahlkampf um Istanbul persönlich eingesetzt. Sein Kandidat, der ehemalige Städtebauminister Murat Kurum, erreichte laut Anadolu vorläufig lediglich knapp 40 Prozent der Stimmen.

Kurden gewinnen Gemeinden zurück

Die Wahl ist auch bedeutend für die kurdische Minderheit im Land. Im kurdisch geprägten Südosten konnte die prokurdische Partei DEM Gemeinden unter Zwangsverwaltung wieder zurückgewinnen. Die Regierung in Ankara hatte zahlreiche prokurdische Politiker wegen Terrorvorwürfen des Amtes entheben und durch Zwangsverwalter ersetzten lassen. Erdogan unterstellt der prokurdischen Partei Terrorverbindungen, was diese zurückweist. Auch an die islamistische Partei Yeniden Refah (YRP) verlor die AKP zwei Provinzen in Anatolien, Sanliurfa und Yozgat.

In Rize, der Heimatprovinz von Erdogan, wurde die AKP zwar stärkste Kraft, büßte aber dennoch im Vergleich zu 2019 massiv Stimmen ein. Auch in den meisten vom Erdbeben im Februar 2023 betroffenen Provinzen erlitt die AKP deutliche Verluste – die Provinz Adiyaman etwa verlor sie an die CHP.

Rund 61 Millionen Menschen waren in der Türkei dazu aufgerufen, Bürgermeister, Gemeinderäte und andere Kommunalpolitiker zu wählen. Der Wahlkampf galt als unfair – ein Großteil der Medien in der Türkei steht unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierung. Bestimmende Themen waren die hohe Inflation von offiziell 67 Prozent, Erdbebenvorsorge und Infrastrukturprojekte.