Die Staatsanwaltschaft Gießen hat die Anklage gegen den ehemaligen Wachmann des KZ Sachsenhausen bei Berlin erhoben. In dem Konzentrationslager nahe Oranienburg waren während der NS-Diktatur 200.000 Häftlinge interniert, Zehntausende wurden ermordet.

Der heute 99-jährige Gregor F. aus Maintal bei Frankfurt  wird Beihilfe zum Mord in 3323 Fällen vorgeworfen. Weil er im Tatzeitraum zwischen Juli 1943 und Februar 1945 zwar volljährig, aber noch nicht 21 Jahre alt war, ist eine Jugendstrafkammer am Landgericht Hanau zuständig. Der frühere SS-Mann war als Wachmann im KZ Sachsenhausen eingesetzt und habe geholfen, Tausende russische Kriegsgefangene und Juden auf unterschiedliche Weise zu ermorden, heißt es in der Anklage vom 7. August 2023.

Die Staatsanwaltschaft hat in dem Verfahren ein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Der Sachverständige kam darin zu dem Ergebnis, dass der fast 100-Jährige zumindest eingeschränkt verhandlungsfähig sei. Stundenweise könne er einem Prozess folgen und sich daran auch beteiligen. Auf einer Art „Gebrechlichkeitsskala“, der sogenannten Frailty-Skala, die die Werte von eins bis neun kennt, stufte er den Probanden bei Drei ein.

Streit über Gesundheitszustand des Angeklagten

Doch daran gibt es inzwischen Zweifel. Die renommierten Verteidiger des Angeklagten haben mehrere Atteste bei Gericht eingereicht, wonach ihr betagter Mandant inzwischen an Altersdemenz leide. Die Bescheinigungen stammen jedoch vom Hausarzt des früheren Wachmanns. Bei ihm handelt es sich um einen Internisten und nicht um einen Psychiater. Durch die vorgelegten Atteste seines Kollegen hat jedoch inzwischen auch der ursprüngliche Gutachter Bedenken bezüglich der Verhandlungsfähigkeit. Hinter den Kulissen der Jugendkammer wird deshalb seit Wochen “gefeilscht”.

Die grundsätzliche Frage, ob ehemalige Helfer des Holocausts noch vor Gericht gestellt werden können, ist in Deutschland seit dem berühmten Fall “John Demjanjuk” eindeutig beantwortet. Der gebürtige Ukrainer wurde 2011 im Alter von  91 Jahren zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Auch Demjanjuk war SS-Helfer in einem Konzentrationslager (Sobibor). Mit dem Urteil leitete die deutsche Justiz eine Kehrtwende in der Rechtsprechung ein und verfolgt seitdem alle noch lebenden ehemaligen Helfer des Holocausts.

Die Jugendstrafkammer will in Kürze entscheiden, ob das Hauptverfahren wirklich eröffnet werden kann. Der angeklagte Pensionist wartet gemeinsam mit seiner Ehefrau in seiner Mietwohnung am Maintaler Stadtrand mit Spannung auf die Entscheidung.

Heute Gedenkstätte: das frühere KZ Sachsenhausen in Brandenburg.