Bernhard Heinzlmaier: Die ÖVP, die narkotisierte Partei
Die USA stecken ja bekanntermaßen in einer Opioidkrise. Das bedeutet, dass die Zahl der Menschen, die die Härten des Lebens in der entfesselten Wettbewerbs- und Konkurrenzgesellschaft nicht mehr aushalten und sich deshalb betäuben müssen, immer größer wird. Mehr und mehr hat sich die amerikanische Gesellschaft in einen Kampfplatz verwandelt, auf dem der völlig hemmungslose Krieg jeder gegen jeden herrscht. Jedes Mittel ist recht, um zum Erfolg zu kommen, vor keiner hinterhältigen Finte der Mitbewerber ist man mehr sicher. Der tägliche Wettkampf um Macht und Geld findet jenseits von Gut und Böse statt. Moral ist nur mehr Gegenstand von Kirchenpredigten oder pessimistischen Feuilleton-Beiträgen. Über sie wird vielleicht gesprochen, niemals aber nach ihren Grundsätzen gehandelt. Der kategorische Imperativ ist tot wie Kant. Man kann ihn am Friedhof der Fantasien über das Gute im Menschen besuchen und dort ein paar melancholische Gedanken niederlegen. Wie schön war es doch früher, als die Menschen noch ehrlich und fair zueinander waren.
Die österreichische Politik steckt nicht in einer Opioidkrise. Vielleicht wird von der einen oder anderen handelnden Person ein wenig gesoffen, darüber hinaus ist sie aber weitgehend nüchtern. Und trotzdem machen die Parteien des Landes den Anschein, als wären sie Halbbetäubte, die fröhlich und irre grinsend durch die Gegend wanken. Egal was auch über sie kommt, nichts lässt in ihnen Kampfgeister erwachen und Überlebenswillen aufkommen. Die Szenerie wirkt wie eine Art Reprise der Geschichte des lieben Augustins. Obwohl alles hin ist, gehen die abgewirtschafteten Parteien schwankend aber aufgeräumt ihrer Wege durch die Katastrophen der Zeit. Und wie der fröhliche Zecher von einst werden sie in der Pestgrube landen, im Gegensatz zu ihm diese aber nicht mehr lebendig verlassen. Italien oder Frankreich haben es ja vorgemacht, dass es ohne traditionelle konservative und sozialdemokratische Parteien auch geht. Dem guten Beispiel aus dem Ausland scheinen die beiden ehemaligen Großparteien mit aller Kraft nacheifern zu wollen.
Die ÖVP im Abwärtsstrudel
So legt die ÖVP seit den Europawahlen eine kapitale Wahlniederlage nach der anderen auf das politische Parkett, taumelt aber trotzdem, wie ein glücklicher Besoffener, weiterhin gut gelaunt durch die politische Landschaft. EU-Wahlen: minus 10 %. Nationalratswahlen: minus 11 %. Wahlen Vorarlberg: minus 5 %. Wahlen Steiermark: minus 9 %. Trotz dieser Katastrophenbilanz bleibt das Führungsduo der Bundespartei, Karl Nehammer und Christian Stocker, gelassen und führt in aller Ruhe Regierungsverhandlungen mit der marxistisch-leninistisch dominierten SPÖ und den libertären Neos, einem wild gewordenen ÖVP-Spin-off, während die FPÖ die Konservativen österreichweit bereits um 14 Prozentpunkte abgehängt hat. Aber nicht einmal das bringt die ÖVP aus ihrem Alltagstrott. Für die Katastrophe in der Steiermark, nach der die ÖVP auf den guten Willen der FPÖ angewiesen ist, um nicht überhaupt aus der Landesregierung zu fliegen, macht ihr Generalsekretär Stocker ohne mit der Wimper zu zucken die Landespartei um Christopher Drexler verantwortlich und kommt damit durch, was fast unglaublich ist. Dass alleine Van der Bellens Ausschluss der FPÖ von den Koalitionsverhandlungen und das sture Festhalten Nehammers an einem völlig inhomogenen Koalitionskonstrukt dafür verantwortlich sind, wird niedergeschwiegen. „Verkauft’s mein G’wand, ich fahr’ in Himmel”, so wird dann wohl der Slogan der Partei lauten, wenn sie die Harakiri-Koalition mit ihrem politischen Antipoden erfolgreich zusammengezimmert haben wird. Außer dass der „Koarl“ aus Niederösterreich für einige Zeit auf dem österreichischen Kanzlerthron platznehmen darf, wird dabei nicht viel weiter Positives für die ÖVP herausschauen. Also ein wenig ertragreiches politisches Geschäft. Angesichts dessen erhebt sich nun für viele die Frage, was ist im Innenleben der vormals konservativen Partei los, das dazu führt, dass diese völlig schmerzbefreit einen kapitalen Niederschlag nach dem nächsten hinunterschluckt und gleichzeitig in eine Koalition hineinwankt, aus der sie zumindest genauso zerzaust und derangiert herauskommen wird, wie aus der Koalition mit den links-ökologischen Grünen. Und das Ende der neuen Koalition wird noch schlimmer sein als das der alten. Denn um mit dem Leninisten Babler und der libertären Meinl-Reisinger einen Pakt zustande zu bringen, wird ein wenig mehr Selbstverleugnung und Identitätsverzicht notwendig sein als beim Trauerspiel mit dem verflossenen grünen Koalitionspartner.
Was hat die ÖVP so kaputt gemacht?
Was sind die Gründe, die am Ende den Totalschaden der Partei verursacht haben? Da gibt es einige. 1) An der Spitze steht ohne Zweifel, dass die ÖVP mit einem Fuß in der Vergangenheit feststeckt und unfähig dazu ist, den Schritt zu machen, der sie vollständig in der Gegenwart ankommen lassen würde. Die Vergangenheit, das sind Bauernbund, Wirtschaftsbund, ÖAAB und der Einfluss des Klerus auf die Partei. Der Bauernbund opponiert gegen jedes vernünftige Handelsabkommen, der Wirtschaftsbund stellt die Interessen des untergehenden kleinen Greißlers über die von Digitalwirtschaft und Industrie und der ÖAAB ist eine Zweigstelle des ÖGB und damit angesteckt von dessen verstaubter fantasieloser Kollektivvertragskultur. Und auf das alles obendrauf kommt die Kirche mit ihrem opferwütigen Humanismus, der die Staatsausgaben explodieren lässt und das tradierte kulturelle Erbe unter einer Flut der vielfarbigen Beliebigkeit erstickt. Alle vier Institutionen stehen für eine Politik, die die Menschen verunsichert, indem sie auf elitäre Weise Ziele verfolgen, die nicht mit den Interessen der normalen Menschen kompatibel sind. 2) An zweiter Stelle steht das toxische Prinzip „Pathos statt Ethos“, das durch von jeglichen Werten und allen guten Geistern verlassenen PR-Agenturen in die Politik hineingetragen wird. Diese Leute glauben doch tatsächlich, dass Worte, Bilder und ästhetischer Schabernack die Menschen stärker bewegen als ihre materiellen und kulturellen Interessen. Denn die Menschen durchschauen die Winkelpolitik jetzt besser als früher. Sie haben gelernt, dass der schöne Glanz von Versprechungen und spektakuläre Bilder nichts mit der Realität zu tun haben. Und sie wissen, dass vor der Wahl alles anders ist als nach der Wahl. 3) Der dritte Grund für den Untergang hängt mit dem ersten zusammen. Die Menschen entscheiden vor allem in Zeiten der Krise in erster Linie aufgrund ihrer persönlichen Interessen. Täten sie es nicht, wären sie schlechte Kapitalisten. Abstrakte Wirtschaftsparameter wie Beschäftigungszahlen, der Aktienmarkt und das Bruttoinlandsprodukt interessieren sie nicht. Das haben die Demokraten bei der Präsidentschaftswahl schmerzlich zur Kenntnis nehmen müssen. Denn nicht, ob der Aktienmarkt funktioniert oder nicht hat die Wahlen entschieden, sondern die Sorge der Amerikaner wegen der steigenden Lebenshaltungskosten. Diese war ihnen doppelt so wichtig wie die populären Themen Immigration und Abtreibung. 4) Und last but not least das Personal. Die ÖVP bevölkern im Übermaß kulturell rückständige Menschen und verschrobene Kammerfunktionäre. Deren vestimentäre Impotenz ist aufdringlich und zurückweisend. Im Vergleich zu ihnen waren Josef Cap und Wolfgang Schüssel modische Avantgardisten. Alles zusammengenommen führt dazu, dass die ÖVP auf Menschen unter 40 wie eine Ansammlung von Außerirdischen wirkt, die noch dazu arrogant und ignorant über den Willen der Menschen hinweggehen.
Die narkotisierte Partei schafft den Wutbürger
Die narkotisierte Partei ist die Partei neuen Typs. Sie torkelt, ins Selbstgespräch versunken, von einem Staatsbankett zum nächsten, von einer Ehrenzeichenverleihung zur anderen, von einer Sitzung hinter verschlossenen Türen zur folgenden. Diese über Generationen gepflogene Praxis hat eine Politkultur entstehen lassen, die nicht mehr an die Lebenswelt der normalen Menschen anschlussfähig ist. Die Politik ist zur Monade geworden, die über der Gesellschaft schwebt. Die Medien sind die Fenster, durch die die Menschen ins Innere der Monade blicken, aus großer Distanz. Wenn sie den Akteuren in der Monade etwas zurufen, können diese es nicht hören. Die Wände sind zu dick. Nicht gehört zu werden macht zornig, verzweifelt, destruktiv. Das Äquivalent zur narkotisierten Partei ist der Wutbürger. Er kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Wenn die Mitte in Bewegung gerät, können politische Systeme stürzen. Auch in Mitteleuropa. Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen kann, waren die Coronaproteste. Sie wirken bis heute nach. Mit autoritären Phrasen und Polizeigewalt kann man den wütenden Bürger nicht bezähmen, aber mit Empathie und politischem Verstand. Beides fehlt der ÖVP-Führung von heute leider gänzlich.
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