Ein gutmütiger Riese führt uns an

Der Organisator dieses Retro-Kunststückes ist, wie könnte es in einer Welt des Scheins anders sein, ein Politikberater und PR-Spezialist. Er lenkt und leitet die Nostalgiefigur Karl Nehammer. Man ist dabei an den “Schachtürken” aus dem 18. Jahrhundert erinnert. In dieser mechanischen Kunstfigur befand sich ein Hohlraum, in dem ein genialer Mensch saß, der die Maschine bediente und einen Gegner nach dem anderen im Spiel bezwang. Hier werden Parallelen zu Nehammer erkennbar, nur befindet sich sein Genius nicht in seinem Inneren, sondern er sitzt in einem mondänen Innenstadtbüro und bedient den Automaten per Bluetooth-Verbindung. Langsam und bedächtig vollbringt der fremdgeleitete, gutmütige Riese sein “Reformwerk”. Es besteht im Kern darin, die personellen Rückstände der Ära von Sebastian Kurz zu beseitigen und das undogmatische und weltoffene Flair der Kurz-Ära weg zu provinzialisieren. Ab sofort werden wieder die guten alten Bünde die Geschicke der ÖVP lenken, auch wenn viele behaupten, dass diese nur mehr Untote wären, wie man sie aus der Serie “The Walking Dead” kennt. Das letzte Opfer der Flurbereinigungen, die ein Anwalt aus Wiener Neustadt organisiert, jener Stadt, in der die SPÖ seinerzeit als bei weitem stärkste Partei, durch eine Koalition der ÖVP mit FPÖ und Grünen – wenn es um die Macht geht, dann passt offenbar jede Kombination – entmachtet wurde, ist die Verfassungsministerin Karoline Edtstadler. Die Frau hat zwei Nachteile. Erstens ist sie eine gutaussehende urbane Erscheinung und zweitens überdurchschnittlich intelligent, zwei Eigenschaften, die in der Retro-ÖVP suspekt sind. Um in der heutigen ÖVP anzukommen, muss man heurigengemütlich sein und aussehen, als hätte man sich die letzten zehn Jahre hindurch am legendären Experiment “Super Size Me” beteiligt.

Ein Stamokap-Clown als Vize-Kanzler

Auch die SPÖ, der nächste Regierungspartner der ÖVP, steckt in einer fundamentalen Krise. Hannes Androsch hat der Partei vor ein paar Wochen attestiert, im letzten Jahrhundert festzustecken. Das ist untertrieben. Die Babler-SPÖ steckt im vorletzten Jahrhundert fest, im Jahrhundert von Marx, Engels, Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht und Rosa Luxemburg. Auch das Weltbild des Parteivorsitzenden Babler wurzelt in dieser Zeit. Der heutige Vorsitzende der poststalinistischen “Partei der Arbeit Österreichs”, Tibor Zenker, hat Babler maßgeblich beeinflusst. Das, woran Babler glaubt, ist in Zenkers Buch mit dem Titel “Stamokap heute: Vom gegenwärtigen Kapitalismus zur sozialistischen Zukunft”, niedergelegt. Stamokap wird der Versuch einer Theorie des Kapitalismus genannt, der auf die Zeit der Komintern unter Dimitroff, Stalin, Molotow und Suslow zurückgeht und die etwas ökonomistisch, holzschnittartig und unterkomplex geraten ist. Lange Zeit rühmte sich Andreas Babler, an der Weiterentwicklung der

kruden Theorie mitgewirkt zu haben. Tatsächlich taucht sein Name in der einschlägigen Literatur nirgendwo auf. Offenbar fungierte er nur als Zenkers “Male Muse” im Hintergrund. Ein weiteres Buch des durchaus produktiven Autors Tibor Zenker trägt den Titel “Der Imperialismus der EU”. Andreas Babler hat es genau gelesen. Seine auf Video festgehaltene antieuropäische Entgleisung aus dem Jahr 2020 ist eindeutig davon inspiriert. Babler bezeichnet die EU als ein “Konstrukt übelster Art, aggressiv, neoliberal und protektionistisch” und gibt zu, selbst in der Bewegung gegen den EU-Beitritt aktiv gewesen zu sein. Der extrem linke Andreas Babler, der seine alte Lenin-Büste in der Zwischenzeit versteckt hat, schmückt neuestens sein Bürgermeisterbüro mit einem Andenken an sein Zusammentreffen mit dem Papst. Das gesinnungslose Schwanken zwischen unvereinbaren Positionen wird von Babler so gerade zur Tugend erhoben. Wir können gespannt sein, mit welchen neuen Rollen der unberechenbare Marxist Karl Nehammer und die ÖVP in den nächsten Jahren noch beglücken wird. Es bleibt also spannend.

Das letzte Kapitel der SPÖ-Geschichte ist aufgeschlagen worden

Das letzte Kapitel der SPÖ, die wie die ÖVP unmittelbar am Abgrund steht, wird der Konflikt “Rudi gegen Andi” sein. Rudi Fussi, der sich jetzt um den Parteivorsitz bewirbt, ist ebenso ein politisches Vexierbild wie Babler. Macht man sich die Mühe, ihn genauer zu beobachten, erkennt man unterschiedliche Charaktere, die in einem verbissenen Konflikt um die Vorherrschaft über seine Persönlichkeit kämpfen. Sollte Nehammer sich nun mit Babler ins Bett legen, dann könnte er an der Seite von Rudi Fussi erwachen, einer unberechenbaren Person, die bunt, schillernd, widersprüchlich und wechselhaft ist, alles Merkmale, die man bei einem Koalitionspartner überhaupt nicht brauchen kann. Was ist nun die Folge der Flutung der österreichischen Politik mit Andis, Rudis und Karlis? Ganz einfach, das Wahlvolk wird sich vom clownesken Spiel abwenden und die Politik nicht mehr ernst nehmen. Eine diskursunfähige Showpolitik, in der anstelle von respektablen Persönlichkeiten Clowns, Gaukler, Hanswürste, Possenreißer, Narren und von der PR-Wirtschaft ferngesteuerte Marionetten, die nicht mehr weiter wissen, wenn man ihnen den Teleprompter abstellt, die Szenerie bevölkern, lässt das Vertrauen in Staat und Regierung erodieren. Den Menschen genügt es vor allem in Krisenzeiten nicht, von einem ständig tagenden politischen Kabarett unterhalten zu werden. Denn das Lachen, das diese Gaukler auslösen, ist nicht befreiend, im Gegenteil, es erzeugt nur neue Beklemmungen. Gefragt wären jetzt respektable und fachkundige Personen wie einst Kreisky, Vranitzky, Schüssel, Androsch, Khol, Häupl, Erwin Pröll oder wie es heute Johanna Mikl-Leitner, Karoline Edtstadler, Herbert Kickl oder Hans Peter Doskozil sind. Aber die von ihnen, die heute noch aktiv sind, halten sich aus dem Wahnsinn heraus oder werden von den Clowns aufs Abstellgleis geschoben.

Ist die Regenerationsfähigkeit der westlichen Demokratien am Ende?

Das Wahlvolk einer Demokratie ist geduldig und verzeiht vieles. Dennoch darf man seine Gutmütigkeit nicht überstrapazieren. Tut man es, dann bekommt man das, was man gerade beim amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf sieht. Betrachtet man die zwei, sagen wir es zurückhaltend, verhaltensoriginellen Kandidaten, kommt man kaum daran vorbei, an der Selbsterhaltungsfähigkeit der politischen Klasse zu zweifeln. Warum findet man in dem riesigen Land keine Typen wie Emmanuel Macron, Giorgia Meloni, Mette Frederiksen oder Viktor Orbán? Findet man sie nicht, dann zerfällt das Wahlvolk im Nu, wie gerade in den USA, in drei Gruppen. Die fanatischen Trump- und Harris-Anhänger und eine dritte, die weder die einen noch die anderen erträgt und sich angeekelt von der Politik abwendet. Wird diese Gruppe dominierend, geraten Staat und Demokratie in eine existentielle Krise. Wir werden es erleben.