Viel zu oft hört und liest man von der Unterdrückung von Frauen in Migrantenfamilien. Menschen, die oft selbst aus dem Land ihrer Vorfahren flüchten, um in einem Land zu leben, das ihnen und ihrer Familie mehr Freiheit, mehr Möglichkeiten bietet – nur um ebendie Freiheit, für die sie so viel geopfert haben, ihren eigenen Kindern zu verwehren. Korrektur: Ihren eigenen Töchtern. Das Frauenbild, das in vielen migrantischen Communities transportiert und aktiv gelebt wird, steht in krassem Kontrast zu den Ansichten und Werten der westlichen Welt, in der sie sich oft bereits in zweiter oder dritter Generation ein neues Leben aufgebaut haben. Wenn ihre Töchter aus diesem Käfig ausbrechen wollen, dann kommt oft das böse Erwachen – die Stichworte Unterdrückung,  Zwangsheirat und auch Ehrenmord sind oft nur allzu allgegenwärtig. Weibliche Selbstbestimmung jeglicher Art, vor allem aber sexueller Natur, ist nicht nur tabu sondern unmöglich.

Dies musste auch Yasemin Toprak (29), eine junge Deutsche mit semidischen Wurzeln, auf schmerzliche Weise erfahren. Sie wurde von ihrer eigenen Familie verstoßen und von ihrem Vater mit dem Tod bedroht, weil sie es “gewagt” hatte, in einem Podcast – völlig harmlos, fernab von Vulgarität und einfach nur offen, echt, mit einer erfrischenden Selbstverständlichkeit und auch mit einer Prise Humor – über Sex zu sprechen. Ein absolutes No-Go für ihre Familie und ihre Gemeinschaft: “Meine Landsleute wollen eine Frau, die keine Vergangenheit hat, die noch nie einen Mann geküsst hat”, sagt Toprak. “Ich möchte dieses Leben nicht führen, was meine Cousinen und Tanten führen. Die haben diese Träume von einer großen Hochzeit und pompösen Kleidern. Aber am Ende ist es nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten.”

Das erzählt die junge Frau nun in einem offenen und ehrlichen Interview mit der deutschen “Welt”. Sie lädt dazu in ihre kleine Welt, ihre erste eigene Wohnung ein, in die sie vor ihrer eigenen Familie flüchten musste. Sie erinnert sich: Es war im März 2021, zwei Wochen nachdem der Podcast aufgenommen worden war, in dem sie unter dem Pseudonym “Yazzy” auftrat, als die Tür zu ihrem Zimmer in der Wohnung, in der sie damals noch gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Geschwistern wohnte, aufflog und ihr Vater hereinstürmte. Hinter ihm die Mutter – selbst tätowiert und ebenso wie der Vater in Yasemins Kindheit eine liebevolle Beziehung zur Tochter pflegend, hatte sich das Blatt schlagartig gewendet als ihre Tochter das Teenageralter erreicht hatte. Da begannen die Einschränkungen, das Ende der Freiheit. Wo andere Mädchen in ihrem Alter ausgingen und von Jungs schwärmten, sollte Yasemin zuhause bleiben und sich aufsparen. Das tat sie auch – bis zu einem gewissen Punkt. Yasemin machte sich ihr eigenes Bild von der Welt, formte ihre eigene Meinung, wurde Feministin und nachdem sie sich bis zum 27. Lebensjahr aufgespart hatte, hatte sie auch Sex. Und als wäre das nicht “schlimm genug”, sprach sie dann auch noch darüber. Über Sex. Öffentlich, in einem Podcast. Zu viel für ihre Eltern, vor allem für ihren Vater – das bringt uns zurück zu dem Moment, als er in Yasemins Zimmer stürmt. Er droht ihr Gewalt an. Die Mutter, daneben, hält ihn nicht auf – es ist Yasemins Bruder, der einschreitet und seine Schwester von körperlichen Blessuren bewahrt. Die seelischen kann er nicht abwehren.

Yasemin wurde depressiv, überlegte sogar, sich selbst etwas anzutun nachdem ihr Vater so offensichtlich dazu bereit war, seine eigene Tochter zu verletzen. Yasemin ist in Deutschland geboren, ihre Eltern, jesidische Kurden, kamen im Jahr 1989 als Asylbewerber in das Land, nachdem sie in der Türkei verfolgt worden waren. In Deutschland fanden sie Freiheit, bauten sich ein neues Leben auf und erhielten 1999, zehn Jahre nach ihrer Ankunft, den deutschen Pass. Doch ein gewisses Gedankengut wollten sie auch in der neuen Freiheit nicht loslassen. Als ihre Tochter darüber nachdachte, sich etwas anzutun, reagierten sie unterkühlt: “Ich weiß nicht mehr, ob es meine Mutter oder mein Vater war, hat einer gesagt: Warum hast du dich denn nicht umgebracht?“, erinnert sich Yasemin.

Schließlich wirft ihr Vater sie mitten im Lockdown auf die Straße, die erste Nacht verbringt Yasemin auf einem Spielplatz. Dann findet sie Unterschlupf bei einem Freund, dann in einer Obdachlosenunterkunft. Über die Moderatorin des Podcasts, der zum Eklat führte, findet sie schließlich eine eigene Wohnung und kann ein neues Leben beginnen. Im ersten Monat darf  Yasemin kostenfrei in der Wohnung leben, doch die junge Frau stellt sich schnell auf eigene Beine: Sie findet einen Job im Callcenter eines Handyherstellers und erhält sich nun, völlig unabhängig von ihrer Familie, selbst. Zuletzt sah sie ihren Vater, der ihr nach ihrem unfreiwilligen Auszug noch eine E-Mail geschickt und seine Tochter mit dem Tod bedroht hatte, am 1. August, als sie unter polizeilicher Begleitung ihre letzten Sachen aus ihrem Elternhaus abholte.

"Es gibt Türken, die beten Adolf Hitler an"

Yasemin ist froh über ihre neue Freiheit und schafft es , offen und relativ abgeklärt über ihre Erlebnisse zu sprechen. Sie erkennt, dass das Problem viel größer ist, als die Einstellung ihres Vaters. Er vertritt eine alte, weit verbreitete Haltung unter Jesiden. Und die ist erbarmungslos. Yasemin ist aufgeklärt – und will selbst aufklären.”Wenn du dir Twitter anguckst, da steht ja immer, die Deutschen seien an allem schuld und rassistisch. Und natürlich gibt es Rassismus. Aber Migranten untereinander sind viel krasser. Hätte ich einen Schwarzen mit nach Hause gebracht, weiß ich, was mein Vater gemacht hätte. Es gibt Türken, die himmeln Adolf Hitler an.” Yasemin erinnert sich an einen Moment in ihrer Kindheit, als ein anderes türkisches Mädchen mit ihr nicht spielen durfte. “Weil ich als Jesidin den Teufel anbeten würde, hat sie gesagt.“

Aber Yasemin lässt sich nicht unterkriegen, sie will etwas bewegen: “Ich möchte eine Stimme sein. Ich möchte gesehen werden. Ich möchte zu kultureller Unterdrückung und Missbrauch etwas sagen. Ich möchte Teil der Aufklärung werden. Ich möchte zeigen, dass Deutsche nicht die Feinde und Ausländer nicht die armen Opfer sind.” Interessanter Nachsatz: “Ironischerweise haben mich dafür häufig deutsche privilegierte Feministinnen kritisiert und angegriffen. Und die wollen mir sagen, was Rassismus ist?”