Die Corona-Pandemie hat die Spaltung der Gesellschaft in den vergangenen 18 Monaten enorm vorangetrieben. Das geht aus einem neuen Bericht des European Council on Foreign Relations (ECFR) hervor, der sich auf Umfragen in zwölf EU-Staaten stützt. Dabei zeichnen sich tiefe Gräben zwischen EU-Ländern und Generationen ab. Die Wahrnehmung über die Pandemie und die Einschätzung der politischen Maßnahmen divergieren deutlich.

Nur mehr 22 Prozent der Europäer fühlen sich „frei“

Lediglich 22 Prozent der Europäer fühlen sich zurzeit „frei“. 64 Prozent gaben an, sich noch vor zwei Jahren „frei“ gefühlt haben.

Am stärksten ist das Gefühl der Unfreiheit in Deutschland und Österreich ausgeprägt, wo 49 Prozent beziehungsweise 42 Prozent angeben, sie seien nicht in der Lage, ihr tägliches Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig halten. Ungarn steht in dieser Frage am entgegengesetzten Ende unter den zwölf befragten Mitgliedstaaten: 88 Prozent der Befragten sagten dort, sie fühlten sich „frei“ oder „teilweise frei“.

Vor allem die Jugend misstraut den politischen Maßnahmen

Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen sehen in diesen einen Vorwand, um „Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben“ oder als inszenierte Möglichkeit, den Anschein der Krisenbewältigung zu erwecken. Besonders hoch ist dieser Anteil in Polen, wo 62 Prozent der Befragten Zweifel an den Beweggründender Regierung äußern, in Frankreich sind es 44 Prozent. In Österreich vertrauen 65 Prozent der Befragten den Begründungen der Bundesregierung für die Beschränkungen.

Europaweit haben die meisten Bürger Vertrauen in die Corona-Strategien ihres Landes. Allerdings sind jüngere Europäer viel eher geneigt, staatlich verordnete Einschränkungen in Frage zu stellen. 43 Prozent der unter 30-Jährigen sehen in den verordneten Ausgangssperren einen „Vorwand zur Kontrolle der Bevölkerung“ oder sollte nur den Anschein erwecken, „die Situation unter Kontrolle“ zu haben. 71 Prozent der über 60-Jährigen sehen in den Ausgangssperren einen Weg, die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Alt gegen Jung – Nord-Westen gegen Süd-Osten

Auch die Auswirkungen der Pandemie werden stark unterschiedlich erlebt. Während fast zwei Drittel der Befragten über 60 Jahren sagen, sie erlebten keine persönlichen Auswirkungen von Corona, sinkt dieser Anteil bei den unter 30-Jährigen auf 43 Prozent. Frankreich und Dänemark sind die einzigen befragten Länder, in denen die unter 30-Jährigen mehrheitlich angibt, von der Krise nicht betroffen zu sein.

Der Umfragebericht verdeutlicht neben der Kluft zwischen den Generationen auch einen zwischen den Regionen in Europa: während die meisten Süd- und Osteuropäer angeben, dass das Virus hier schwere Erkrankungen, Todesfälle oder wirtschaftliche Notlagen verursacht hat, ist in West- und Nordeuropa das Gegenteil der Fall: Für die meisten dortigen Befragten ist Corona eher eine Art grausamer Zuschauersport.

„Europa ist ein Kontinent unterschiedlicher Erfahrungswelten“

Mark Leonard, Co-Autor des Berichts und Gründungsdirektor des ECFR, sieht „tiefe Gräben“ zwischen den Staaten, die sich ähnlich gravierend darstellen könnten wie jene während der Euro- und der Flüchtlingskrise: „Heute ist Europa ein Kontinent unterschiedlicher Erfahrungswelten: Für die einen stellt die Pandemie ein persönliches Trauma dar, für die anderen nicht. Die einen befürworten langfristige Schutzmaßnahmen, die anderen sind der Ansicht, unsere bürgerlichen Freiheiten sollten in vollem Umfang wiederhergestellt werden. Und schließlich vertrauen die einen den Motiven ihrer Staatsregierung, die anderen nicht.“

Co-Autor Ivan Krastev – er ist darüber hinaus Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies – ergänzt:
„Die Spaltungen, die sich auf dem gesamten Kontinent abzeichnen, könnten in Europa ein neues politisches Zeitalter einleiten, wenn sie offen zutage treten.“ Am dramatischsten sei die Kluft zwischen den Generationen: „Eine ganze Generation hat das Gefühl, dass ihre Zukunft zum Wohle ihrer Eltern und Großeltern geopfert wurde.“

Fühlen Sie sich heute frei?