Yong-Hye, eine unscheinbare Frau mit Topfschnitt und Schlupflidern, hat einen furchtbaren Traum und beschließt, sich fortan vegetarisch zu ernähren. Schon der Geruch von Fleisch stößt sie ab. Ihre Familie reagiert mit Unverständnis und Aggressivität. Die Frau wird zunehmend passiver. Sie genießt es, nackt zu sein, entblößt sich in der Öffentlichkeit. Irgendwann will sie gar nichts mehr essen. Ihre Ärzte diagnostizieren Magersucht und Schizophrenie. Yong-Hye steigert sich in die Vorstellung hinein, selbst zur Pflanze zu werden und glaubt, nur mit Wasser überleben zu können. Nach einem Versuch der Zwangsernährung mit Reissuppe landet Yong-Hye auf der Intensivstation.

Das könnte der Plot eines experimentellen, leicht bizarren „Kleinen Fernsehspiels“ im ZDF sein, ist aber tatsächlich die Rahmenhandlung des Romans „Die Vegetarierin“, des bekanntesten Werkes der südkoreanischen Autorin Han Kang. Gestern gab das Literaturnobelpreis-Komitee der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften in Stockholm bekannt, dieses Jahr Han Kang auszuzeichnen. Rund 200 Namen standen nach Auskunft der Akademie diesmal auf der erweiterten Kandidatenliste (die traditionell 50 Jahre lang unter Verschluss gehalten wird). Gute Chancen waren zuvor dem aus Indien stammenden britisch-amerikanischen Schriftsteller Salman Rushdie eingeräumt worden, der den Nobelpreis aber wahrscheinlich als auf der Todesliste extremistischer Muslime stehender Islamkritiker ebenso wie der Franzose Michel Houellebecq niemals bekommen dürfte.

Han Kang lebte selbst eine Weile vegetarisch und fand es eher amüsant, wie ihr Umfeld darauf reagierte.GETTYIMAGES/SOPA Images / Kontributor

Denn anders als die Nobelpreise in den “harten” Kategorien Physik, Chemie und Medizin, in denen die Preisträger unzweifelhaft bedeutsame Leistungen vorweisen müssen und die nicht einfach nach Quote ausgewählt werden können, kann der Friedensnobelpreis an Mutter Teresa, aber auch an Yassir Arafat gehen, je nach politischem Gusto der Jury. Ähnlich verhält es sich mit dem Nobelpreis für Literatur, der sich, so die SZ vor Jahren, “als der bessere Friedensnobelpreis gebärdet”.

Die Akademie wollte "bei ihrer Auswahl diverser werden"

Literarische Qualität liegt im Auge des Betrachters. Was Hellmuth Karasek einst im “Literarischen Quartett” hymnisch lobte, konnte Marcel Reich-Ranicki mit angeödetem Gesichtsausdruck und einem “Ich habe mich schrrräcklich gelangweilt!” unangespitzt in den Boden rammen. Das Kunstschöne, das Sprachlich-Poetische ist nun einmal Geschmackssache, deshalb kommt der politischen Präferenz bei der Beurteilung größere Bedeutung zu. “Umstrittene” Entscheidungen gab es deshalb immer wieder.

In unseren Zeiten der – noch – dominierenden Kultur der Wokeness sind der Willkür Tür und Tor besonders weit geöffnet. 116 Literaturnobelpreis-Verleihungen gab es bisher und 120 Preisträger (von denen die Hälfte in den Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch schrieb), darunter nur 17 Frauen. Alte weiße Männer sind ohnehin nicht mehr gefragt, und so haben sich schon weithin unbekannte Autoren den Nobelpreis und das Preisgeld (diesmal 10 Millionen Kronen, mehr als 960.000 Euro) in Stockholm abgeholt. Namen wie Mo Yan und Abdulrazak Gurnah waren bis zu ihrer Kür bestenfalls einem sehr überschaubaren Kreis von Literaturfeinschmeckern bekannt. Oder einfach mal “dran”, weil eben nicht nur alte weiße Männer geehrt werden durften.

“Beobachter hatten bereits vor der Bekanntgabe mit einer Preisträgerin gerechnet. Auch war spekuliert worden, dass der Preisträger nach 2023 und 2022 wahrscheinlich nicht weiß sein und nicht aus einem westlichen Land kommen werde”, heißt es bei Deutschlandfunk Kultur. Und weiter: “Die Schwedische Akademie hatte vor Längerem angekündigt, bei ihrer Auswahl diverser werden zu wollen. Sie stand lange in der Kritik, weil sie jahrzehntelang vor allem männliche weiße Autoren aus westlichen Ländern ausgezeichnet hatte.”

Die politische Dimension spielt immer eine Rolle

Mit anderen Worten: Das Komitee hatte eine Quote zu berücksichtigen, denn bereits 2018 hatte es zugesichert, bei seinen Entscheidungen mehr Weltregionen einzubeziehen und stärker auf Geschlechterparität zu achten. Nicht der weltweit bedeutendste Dichter oder Romancier wird gesucht, sondern jemand, der kein Mann und kein Christ ist und nicht aus Europa oder Nordamerika stammt. Die politische Dimension überwiegt grundsätzlich jedes Qualitätsargument.

Die Wahl fiel auf die Südkoreanerin Han Kang, offiziell “für ihre intensive Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt”. Mit ihrem “experimentellen Stil” sei sie eine Erneuerin der zeitgenössischen Prosa. Akademiemitglied Anna-Karin Palm nannte Han Kangs Werk “reich und komplex”, wie ein 25 Jahre alter schottischen Single Malt Whisky, gewissermaßen. Nun mag der Prosa Han Kangs ja gar keine literarische Qualität abzusprechen sein, dennoch drängt sich die Frage auf, ob etwa “Die Vegetarierin” im Westen hätte erfolgreich sein können, wenn die Protagonistin in einer veganen WG leben würde, beschlösse, sich fortan nur noch fleischlastig zu ernähren und davon träumte, sich in ein Schnitzel zu verwandeln.

Han Kang ist erst die 18. Frau, die den Nobelpreis für Literatur bekommt.IMAGO/SOPA Images

Der feministische Akt der Befreiung von familiären und gesellschaftlichen Normen in Kombination mit der fleischlosen Komponente fällt im Westen jedenfalls auf fruchtbareren Boden als in der Heimat Han Kangs selbst. Gut, der Prophet gilt im eigenen Land bekanntlich nichts, aber in Südkorea hat der Roman bei seinem Erscheinen im Jahr 2007 wenig Aufmerksamkeit erfahren, es wurde kaum besprochen und von der Leserschaft als grotesk verschmäht. Der Erfolg kam erst mit seiner englischen Übersetzung. Verfilmt wurde das Buch zwar auch, aber nicht von Martin Scorsese, sondern von Regisseur Lim Woo-seon, und blieb von der Welt eher unbeachtet.

Gesucht: Antiheldinnen, gern weiblich, gern PoC

Zwar sind die wenigsten Literaturnobelpreisträger Bestsellerautoren, aber dennoch drängt sich hier der Verdacht auf, dass Quote und politisch korrektes Werk treibende Kräfte hinter der Entscheidung des Nobelkomitees waren. Von insgesamt 121 Preisträgern ist Han Kang erst die 18. Frau und erste Koreanerin. Da ist noch viel Luft nach oben. Burkina Faso ist noch ohne Literatur-Nobelpreis, und vielleicht findet sich ja noch eine Antiheldin wie Yong-Hye, die weibliche Verkörperung des literarischen Archetyps “Byron’scher Held” – eine einbeinige Autorin, die von ihrer feministischen Einkaufspolitik auf dem Markt von Ouagadougou berichtet, angefeindet und übervorteilt von einem alten Mann und sich in ihre eigene Traumwelt zurückzieht, in der sie ihrem Peiniger als Furunkel auf der Nase sitzt. „So etwas Intensives und Aufwühlendes hat man lange nicht gelesen“, wird eine NDR-Literaturredakteurin schreiben, und die Schriftstellerin wird schnurstracks auf die Nominiertenliste gesetzt.

In einem Biotop, in dem ein Ernährungssoziologe im Spiegel Fleischkonsum für sexistisch erklären kann (“Der Mann, der Fleisch isst, unterwirft nicht nur die Natur, sondern auch symbolisch die Frau”) kommt die schon gut abgehangene Geschichte einer Frau, die sich weigert, sich den gängigen Ernährungsnormen zu unterwerfen, als revolutionärer Akt rüber, auch wenn Han Kangs Protagonistin, seien wir ehrlich, schon ziemlich einen an der Waffel hat. Oder gerade deswegen, denn verrückt sind diese Zeiten ganz ohne Zweifel.

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