Schwere Verluste, minimale Fortschritte und nur einen einzigen nennenswerten Erfolg: Das sieht Militärexperte Markus Reisner im bisherigen Verlauf der ukrainischen Gegenoffensive. „Einen operativen Durchbruch gibt es noch nicht“, sagt er gegenüber n-tv. „Wir dürfen nicht vergessen, dass die ukrainische Offensive mittlerweile seit 58 Tagen andauert. Bislang hat sie nur wenige Kilometer erzielt.“ Jedes Mal, wenn die ukrainische Truppen „versuchen, einen massiven Angriff durchzuführen, dann scheitert dies, weil die wesentlichen Voraussetzungen fehlen.“

Ukrainische Soldaten beim Trainieren für die Gegenoffensive.Scott Peterson/Getty Images

Vor allem im Süden konnten sich die Russen über mehrere Monate hinweg tief eingraben. Am erfolgreichsten sei deshalb der ukrainische Vorstoß bei Bakhmut gewesen, weil Russland dort die nötige Zeit dafür gefehlt hat. „Dort kann man durchaus davon sprechen, dass die Ukraine sukzessive in Richtung Osten marschiert. Umschlossen haben die ukrainischen Truppe die Stadt aber noch nicht.“

Den größten Erfolg konnten die ukrainischen Streitkräfte bisher südlich von Bakhmut erzielen.Institute for the Study of War

Schwere Verluste südlich von Orichiw

Ansonsten sei die Bilanz betrüblich, etwa südlich von Orichiw: „Dort wurde die 47. Mechanisierte Brigade, die über Bradleys und Leopard-2-Kampfpanzer verfügt, von der 118. Mechanisierten Brigade unterstützt. Hier ist es „nicht zu massiven Durchbrüchen gekommen, im Gegenteil: Der Angriff verlief sehr verlustreich. Es gibt Bilder, die zeigen, dass alleine bei einem Vorstoß eine gemischte Panzer- und Schützenpanzer-Kompanie mit über zehn Fahrzeugen und Besatzungen vernichtet wurde“.

Ein Soldat neigt den Kopf, während ukrainische Panzerfahrzeuge manövrieren und ihre 30-mm-Kanonen abfeuern.Scott Peterson/Getty Images

Östlich von Orichiw sollen Russen und Ukrainer zurzeit wechselseitige Erfolge erzielen. Dort hat die Ukraine die Ortschaft Staromajorske eingenommen, Russland dürften aber offenbar Rückeroberungen gelungen sein.

Vorbereitende Luftangriffe fehlen Kiew unter anderem

Eine erfolgreiche Offensive sei „immer von einem Durchbruch auf operativer Ebene gekennzeichnet“, unterstreicht der Militärexperte. „Das bedeutet, dass der Angreifer in die Tiefe vorstößt und beim Gegner einen Dominoeffekt auslöst, bis hin zum Zusammenbruch der Front. Ein großer Durchbruch würde die ukrainischen Truppen im Süden beispielsweise bis zum Stadtrand von Tokmak bringen, damit sie von dort weiter vorstoßen können in Richtung Melitopol oder Mariupol oder gar der Krim.“

Ein MRLS, ein Mehrfachraketenwerfersystem, der 58. Brigade der ukrainischen Armee im Einsatz.Laurent Van der Stockt for Le Monde/Getty Images

Das sei etwa während des Zweiten Weltkriegs den westlichen Alliierten im Rahmen der amerikanische Offensive „Operation Cobra“ im Jahr 1944 gelungen. Mit ihr wurde „die deutsche Kriegführung in Frankreich letztlich beendet“. Ein entscheidender Faktor dürften „massive vorbereitende Luftangriffe der Amerikaner“ gewesen sein. Das Problem: Genau das fehlt der Ukraine.

Operation Cobra: Eine Kolonne mit Tausenden von kapitulierten Kriegsgefangenen der deutschen 7. Armee (Wehrmacht Armee-Oberkommando 7), die von der Ersten Armee der Vereinigten Staaten bei Avranches im August 1944 in der Normandie gefangen genommen wurde.Hugh Broderick/Pool/Keystone/Hulton Archive/Getty Images

Minenfelder können nicht mehr umgangen werden: zu zahlreich

Die NATO fasst die Grundsätze für einen entscheidenden Durchbruch mit SOSRA zusammen. Das Akronym steht für: Unterdrücken, verschleiern, sichern, reduzieren und angreifen (auf Englisch: suppress, obscure, secure, reduce, assault). „Für die Ukraine ist so ein Vorgehen nicht möglich“, sagt Reisner. „Sie kann zum Beispiel kaum eine Unterdrückung oder Verringerung des Gegners und seiner Stellungen erreichen“. Erfolgreicher sei Kiew mit der Stroßtrupp-Taktik: zwei Schritte vor und einer zurück.

Ein weiteres zentrales Problem: Die ukrainischen Truppen können nicht Minenfelder umgehen, weil das Ausmaß der Minensperren zu hoch ist. „An vielen Stellen in der Ukraine hatten die Russen monatelang Zeit, sich einzurichten. Eine nicht unwesentliche Rolle könnte hierbei die Offensive der Ukraine in Cherson gespielt haben, die schwieriger war, als die erfolgreiche bei Charkiw. Damals konnten die Russen binnen zwei Tagen 30.000 Man 2500 Fahrzeuge abziehen und nach Bakhmut verlegen. Wegen der dortigen Kämpfe wiederum musste die Ukraine ihre dritte Offensive aufschieben. Damit gewannen die Russen Zeit.

Ein weiteres Problem für die ukrainische Armee: Sie können Minenfelder nicht umgehen, weil diese zu zahlreich sind.John Moore/Getty Images

Russlands Zerstörungen in der Ukraine bezwecken offenbar Errichtung einer Pufferzone

Putins Ziel sei es offenbar, „die Ukraine in ein ödes Glacis zu verwandeln, als Vorfeldverteidigungsraum gegen die NATO“. Das meint folgendes: „Der Begriff kommt aus dem Festungsbau der frühen Neuzeit. Das war ein unbesiedelter Raum vor einer Festung, in dem im Fall eines Angriffs die Abwehr stattfand. … Großreiche haben immer versucht, Pufferzonen um sich herum einzurichten – möglichst entvölkert oder menschenleer, damit ein Angreifer dort keine Unterstützung finden kann.“

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Wien ebenfalls eine solche Pufferzone jenseits des Ringes. Sie blieb unbebaut aus Angst vor einem neuen Osmanen-Angriff. „Wenn man sich anschaut, welche Zerstörung Russland in der Ukraine bei seiner angeblichen ‚Befreiung‘ betreibt, dann muss man davon ausgehen, dass es dort genau dieses Ziel verfolgt“, meint Reisner.