Die Russen haben zwar nicht die Lufthoheit, wohl aber die Luftüberlegenheit. Das unterstreicht Militärexperte Markus Reisner, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien, mit Blick auf die seit voriger Woche anhaltenden Luftangriffe auf die Ukraine. „Die Russen können zwar nicht mit Flugzeugen über die Ukraine fliegen. Aber sie können Ziele angreifen, wo immer sie möchten“, sagt er gegenüber der „Deutschen Welle“.

Bei einem russischen Angriff mit iranischen Drohnen wurde auch ein Wohnhaus beschädigt.APA/AFP/Yasuyoshi CHIBA

Russland setzt auf Fluchtwellen im Winter

Für die Ukraine sei das strategisch fatal. „Denn die ukrainische Armee rückt im Süden und Osten des Landes zwar weiter vor. Aber im Hinterland wird die Infrastruktur getroffen.“ Für die kalte Jahreszeit verheiße das nichts Gutes. „Den Menschen steht ein sehr, sehr harter Winter bevor. Das könnte dann zu weiteren Fluchtbewegungen Richtung Westen führen und dort zu gesellschaftlichem Unmut führen. Genau darauf setzt Russland.“

Ukrainische Feuerwehrleute arbeiten in Kiew an einem zerstörten Gebäude nach einem Drohnenangriff.APA/AFP/Yasuyoshi CHIBA

Die Russen setzen nun zahlreiche Drohnen ein, und die stellen die Ukraine vor ein Problem: „Die Drohnen sind vergleichsweise klein. Die herkömmliche ukrainische Luftabwehr ist aber meist auf viel größere Objekte programmiert, etwa auf Flugzeuge und Hubschrauber.“

Ukraine muss nachrüsten oder moderne Systeme einsetzen

Daran, dass die Drohnen aus dem Iran stammen, zweifelt niemand mehr. Reisner verweist auf massive Transportbewegungen russischer Flugzeuge in den Iran und zurück. Diese seien ein klarer Hinweis für die Lieferung großer Materialmengen. „Auch die Bauart der gesicherten Drohnen spricht eindeutig für ein iranisches Modell.“  Eingesetzt würden die Drohnen wohl wegen eines gewissen Mangels bei den russischen Flugwaffen. Das heiße aber nicht, dass sich Russlands Arsenal leert.

Bewohner von Kiew rennen nach einem Drohnenangriff neben Polizisten davon.APA/AFP/Sergei SUPINSKY

Nun müsse die Ukraine entweder nachrüsten oder auf die modernen Systeme setzen, die gerade in die Ukraine geliefert werden. „Das sind so genannte Multi-Sensor-Systeme“, erläutert der Militär-Experte. „Sie haben also ganz unterschiedliche Sensoren, die auf akustischer, optischer oder elektromagnetischer Basis arbeiten.“ Diese Systeme können auch kleine Ziele abfangen.

Schwere Schläge gegen ukrainische Luftabwehr seit Februar

Optimistisch äußerte sich deshalb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Video-Botschaft: „Natürlich haben wir nicht die technischen Möglichkeiten, 100 Prozent der russischen Raketen und Kampfdrohnen auszuschalten“, sagte er. Mit Hilfe der internationalen Partner werde man diese Ziel aber schrittweise erreichen. „Schon jetzt schießen wir einen Großteil der Marschflugkörper und Drohnen ab.“

Präsident Selenskyj gibt sich zuversichtlich.

Markus Reisner ist da skeptisch. Solche Aussagen seien Bestandteil der psychologischen Kriegsführung: „Die ist absolut legitim. Aber man muss auch sehen, dass die russischen Raketen sehr präzise funktionieren. Wenn man derzeit hört, dass 40 Prozent der ukrainischen Infrastruktur getroffen worden ist, spricht das für eine enorme Präzision der russischen Angriffe. Die Luftabwehr der Ukraine musste in den vergangenen acht Monaten schwere Schläge einstecken. Das macht sich nun bemerkbar.“

Schwarm von Kamikaze-Drohnen überlastet Abwehrsysteme

Eingesetzt würde vor allem zwei Drohnentypen: Zum einen die des Typs Mohajer-6, zum anderen der Typ Shahed-136. Die Mohaer-6 dient der Aufklärung von Zielen für die Artillerie. „Sie lässt sich aber auch mit Luft-Boden-Raketen bestücken, kann also auch Ziele bekämpfen, nachdem sie sie aufgeklärt hat.“

Eine iranische Drohne fliegt während eines Angriffs über Kiew.APA/AFP/Sergei SUPINSKY

Die Shahed-136 hingegen ist eine klassische Kamikaze-Drohne, erläutert Reisner gegenüber dem deutschen Auslandsrundfunk. Das GPS-System, das diese Drohne leitet, führt sie bei stetiger Kurskorrektur exakt zu ihrem Ziel. Entscheidend sei aber: Diese Drohne werde in der Regel nie isoliert eingesetzt. „Vielmehr fliegt sie meist in einem Schwarm von zehn bis 15 anderen Drohnen. Dadurch werden die ukrainischen Abwehrsysteme überlastet.“ Zwar schießen die Systeme einige der Drohnen ab, aber von 15 gelangen dann doch noch einige ins Ziel.

Anschließend feuern die Russen ihre Marschflugkörper – kleine Flieger ohne menschliche Piloten – ab. Gegen die könne die Luftabwehr nur mehr wenig ausrichten, weil die Ukraine nicht so schnell neuen Raketen nachladen kann. Nach acht Monaten seien die ukrainischen System trotz aller Unterstützung erschöpft.