Nüchtern und unbeeindruckt von zahlreichen Erfolgsmeldungen – so fällt die jüngste Kriegsanalyse von Oberst Markus Reisner. Einen baldigen Sieg oder auch nur Siegeschancen der Ukraine kann er zurzeit nicht entdecken, auch wenn er den “Verteidigungswillen” der ukrainischen Streitkräfte ausdrücklich hervorhebt. Reisners Fazit: “Wenn der Westen nicht in den kommenden Wochen gesteigerte Stückzahlen hochmoderner Waffen (darunter vor allem Artillerie und Mehrfachraketenwerfer, aber auch weitreichende Fliegerabwehr) in die Ukraine liefert, kann die Ukraine diesen Konflikt nicht für sich entscheiden.”

Ukraine kann zurzeit ihren Luftraum nicht ausreichend schützen

Zurzeit könne die Ukraine nicht ihren Luftraum gegen russische Marschflugkörper und ballistische Raketen schützen. Solange es dabei bleibt, “scheint jede regional gebundene militärische Wiederausrüstung illusorisch. Diese ist aber notwendig, wenn die Ukraine das verlorene Land wieder in Besitz nehmen möchte. Jene Gebiete, die sie notwendig braucht, um wirtschaftlich überleben zu können.”

Wie beim Ersten Weltkrieg bestimmt in Wahrheit vor allem die Artillerie den Kriegsverlauf.

Somit liegt es Reisner zufolge in der Hand des Westens, wie dieser Krieg weiterverlaufen wird.” Zurzeit fehlt es auf jeden Fall “an der ernst gemeinten Unterstützungsbereitschaft des Westens”.

Ein Kollaps der russischen Armee ist nicht in Sicht

Dahinter könnte auch ein “Kalkül des Westens” stecken, wie der Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt einräumt. “Man wartet ab, wie sich das Ergebnis bis zum Ende des Sommers auf dem Schlachtfeld darstellt. Ist Russland im Oblast Donezk erfolgreich, könnte es durchaus sein, dass es eine Bereitschaft zu Verhandlungen signalisiert. Das kann auch aus einer Situation der Erschöpfung heraus der Fall sein. Viele europäische Länder werden dann vermutlich Druck auf die Ukraine ausüben, diesem russischen Vorschlag nachzukommen.”

Änderungen beim Verlauf der Frontlinie kann man seit Monaten nur bei genauem Hinsehen erkennen.

Nicht beirren lässt sich Markus Reisner auf jeden Fall von den Berichten westlicher Nachrichtendienste über einen baldigen Zusammenbruch des russischen Angriffes: “Dieser Kollaps tritt nicht ein. Das Gegenteil scheint der Fall.”

Westliche Waffenlieferungen haben keine durchschlagende Wirkung

Im schrittweisen Abnützungskrieg hat Russland zurzeit die Oberhand: “Im Donbass rücken die russischen Kräfte an breiter Front noch immer langsam, aber stetig vor. Im Süden konnten sie bei Cherson bis jetzt den strategisch wichtigen Brückenkopf am Westufer des Dnepr halten.” Immerhin: Die Angriffe auf die Krim zeigten, dass die Ukraine die “Achillesferse” der Russen erkannt hat. Moskau verkaufte den Abzug aus dem Raum der eigenen Bevölkerung aber erfolgreich “als Teil des Gesamtplans einer ‘Demilitarisierung’ der Ukraine”.

"Die vom ukrainischen Präsidenten nun wiederholt durchgeführten Personalwechsel zeigen seine Ungeduld."Presidency of Ukraine / Handout/Anadolu Agency via Getty Images
Mehrfachraketenwerfer aus dem Westen haben der Ukraine bereits geholfen, waren aber nicht ausreichend.

Bisher zeigten die westlichen Waffenlieferungen zwar Wirkung, “aber noch immer nicht in durchschlagender und nachhaltiger Form”. Die bisher eingetroffenen westlichen Waffenlieferungen bewirkten vor allem, dass die ukrainischen Streitkräfte “zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben haben”. Klar ist: “Erst bei einem vollumfassenden Stopp der russischen Angriffe oder bei einem Zurückweichen der russischen Truppen (analog zur Situation um Kiew im März 2022) kann man aus nüchterner, objektiver und militärischer Sicht tatsächlich von einer Wende im Krieg sprechen.”

Brutal: Artillerie kämpft entlang einer 1200 Kilometer langen Front

Zurzeit werden die eintreffenden westlichen Artilleriesysteme “entlang der Frontlinie hin und hergeschickt”. Die Frontlinie ist sage und schreibe knapp 1.200 Kilometer lang – von Charkiv bis nach Cherson im Süden. “Zum Verständnis: Dies wäre dieselbe Strecke, die man mit dem Auto von Berlin nach London fahren müsste.” Dabei müssten die Ukrainer laufend “beweglich bleiben”, um nicht von den Russen aufgeklärt und getroffen zu werden”. Sobald die ukrainische Armee an einer Stelle der Front  ausdünnt, schlagen die Russen zu und erhöhen den Druck. Westlich von Donetsk versuchen sie gerade die erste Verteidigungslinie zu durchbrechen. Gelingt das, und danach noch bei der zweiten und dritten, wäre das ein “ukrainisches Desaster im Donbass”.

Es ist ein verlustreicher Krieg für beide Seiten.

Brutal ist der Krieg vor allem deshalb, weil er wie im Ersten Weltkrieg primär durch die Artillerie bestimmt ist. “Das laufenden ‘Trommelfeuer’ soll die gegnerischen Stellungen ‘sturmreif’ schießen. In der Tiefe des Gegners versucht man, dessen Nachschub zu unterbrechen oder zu zerstören.” In den Wäldern von Izjum lieferten sich ukrainische und russische Spezialeinsatzkräfte etwa im Verborgenen “ein blutiges Gemetzel”.

Einige Medienberichte zurzeit lenken mehr vom Wesentlichen ab: “Drohnen zur Artillerieaufklärung oder im “Kamikaze”-Einsatz, Artilleriefeuerleit-Apps, Präzisionsmarschflugkörper oder Mittelstreckenraketen, Satelliten- und Funkaufklärung täuschen nur darüber hinweg, dass der Krieg nach wie vor mit äußerster Brutalität geführt wird.”