Die EU-Kommission ist kurz davor, Atomkraft als nachhaltig einzustufen. In der kommenden Woche soll es soweit sein. Die Entscheidung hätte weitreichende Folgen: Kernenergie würde damit einen grünen Anstrich verpasst bekommen. Der Weg wäre frei für Milliarden an Investitionen in den kommenden Jahren. Auf Jahrzehnte wäre Kernkraft fester Bestandteil des europäischen Energiemixes.

Bundeskanzlerin Angela Merkel lenkte ein

Deutschlands scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bereits eingelenkt, wie sich nun zeigt. Sie sieht keine Chance mehr, das Nachhaltigkeitslabel für die Atom-Technologie zu verhindern, wie sie kürzlich erklärte. Offensichtlich gibt es bereits einen Deal mit Frankreichs Emmanuel Macron, dem großen Atomkraft-Fürsprecher in der Europäischen Union. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete nach dem letzten EU-Gipfel Kernenergie bereits als stabile Energiequelle. Eine geschlossene Anti-Kernkraft-Allianz in der EU dürfte es ebenso nicht mehr geben, Spanien etwa scheint auszuscheren.

Das Kernkraftwerk Fessenheim ist Frankreichs ältestes Atomkraftwerk. Nun wird es nach 43 Betriebsjahren abgeschaltet. Doch Frankreich baut bereits eifrig neue Atomkraftwerke.APA/AFP/SEBASTIEN BOZON

Mit anderen Worten: Der Alptraum aller europäischen Atomkraft-Gegner könnte in Kürze Wirklichkeit werden. Die gesamte EU öffnet sich der Kernenergie. Die gesamte EU? Nein! Ein von einer unbeugsamen Koalition regiertes Land namens Österreich leistet weiterhin Widerstand. Die heimische Regierung will als einzige die Entwicklung nicht akzeptieren und führt einen mittlerweile einsamen Kampf gegen die Atomkraft. Dabei zieht sie alle Register und droht mit jahrelangen Prozessen gegen die EU-Kommission.

Gewessler: Stehen bereit, die EU-Kommission zu verklagen

Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) erklärte: Die Regierung stünde bereit, die EU-Kommission zu verklagen, wenn Kernenergie Teil der europäischen Taxonomie werde. Dabei stützt sich die Ministerin auf zwei Gutachten, die sie gemeinsam mit dem deutschen Bundesumweltministerium in Auftrag gegeben hat. Gemäß den beiden Papieren begehe die EU-Kommission eine Fehlentscheidung, die rechtlich anfechtbar sei. Jahrelange Rechtsstreitigkeiten drohten, die Investoren verunsichern dürften.

Als klimaschädlichste Stromerzeuger gelten Kohlekraftwerke. Im Bild das Kohlekraftwerk Mehrum in Hohenhameln im Landkreis Peine (Niedersachsen).APA/DPA/Julian Stratenschulte

Das eine Gutachten stammt vom deutschen Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE). Ihm zufolge wurden viele relevante Themenbereiche ausgeklammert, es wurden etwa “die Folgen schwerer Unfälle für die Umwelt nicht berücksichtigt”. Auch das Problem der Endlagerung sei von den Wissenschaftlern der Kommission zwar erwähnt, aber nicht hinreichend klar bewertet worden. Dem zweiten, juristischen Gutachten der Kanzlei Redeker, Sellner, Dahs zufolge darf Atomkraft schlicht nicht als grüne und nachhaltige Energie eingestuft werden. Damit könnten Mitgliedstaaten die EU-Kommission tatsächlich verklagen – und die will solche Prozesse möglichst vermeiden und schon gar nicht vor Gericht verlieren.

Wer soll künftig den Strom erzeugen?

Fakt ist: Europa braucht mehr Strom, der auch hoffentlich nicht zu teuer ist. Doch woher soll er am Ende kommen? Kohlekraftwerke gelten als die großen “Klimasünder” unter den Stromerzeugern. Gas ist die vergleichsweise “klimafreundlichere” Variante, denn die Emissionen sind beim Verbrennen nur halb so hoch wie bei Braunkohle. Das Problem ist hier die Geopolitik. Nun soll zusätzliches Erdgas durch die eben fertig gestellte deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2 nach Deutschland gelangen. Doch die USA drohen mit Sanktionen, und auch innerhalb der EU regt sich Widerstand. Die Abhängigkeit von Russland und seinem Präsidenten Putin ist vielen ein Dorn im Auge. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki forderte von der neuen Bundesregierung einen sofortigen Stopp der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2.

Blick auf die Empfangsstation des Pipeline-Inspektionspegels an der deutschen Ostseeküste. Die Empfangsstation ist das logistische Bindeglied zwischen der Nord Stream 2-Pipeline und dem europäischen Pipelinenetz.APA/AFP/John MACDOUGALL

Dann gibt es da noch die alternativen Energiequellen wie Wasserkraft, Windkraft, Solar, Geothermie und Biomasse, auf die man zunehmend setzt. Die sind zwar klimafreundlich, doch – so der Tenor sämtlicher Wissenschaftler – kann nach jetzigem Wissensstand eine Industrienation wie Deutschland mit ihnen allein nicht auskommen. Emmanuelle Macron erklärte deshalb schon vor längerer Zeit, die EU könne gar nicht ihre Klimaziele ohne Atomkraft erreichen. Der französische Präsident schmiedete daher eine Allianz anderen Kernenergie-Befürwortern in Osteuropa und preschte nun am entschiedensten für die Atomkraft vor. Nun stellt sich Österreich ihm in den Weg.

Man sieht: Es gibt verschiedene Wege, um Europa künftig mit ausreichend viel Strom zu versorgen. Nur bei der Klärung der Frage für welchen dieser Wege man sich entscheidet, wird die EU Prioritäten setzen müssen, bei deren Festlegung die Ansichten der EU-Staaten auseinander klaffen – nicht zum ersten Mal.

Die Sonne geht hinter Windrädern auf. Sie schonen das Klima, sind aber als Stromerzeuger allein nicht ausreichend.APA/dpa/Sebastian Gollnow

Sollte die EU auf Atomkraft als nachhaltige Energie setzen?