Was wäre den Ukrainern, aber auch den vielen unfreiwillig in den Krieg gehetzten russischen Soldaten und deren Angehörigen alles erspart geblieben: Der am 21. Februar 2022 von der Russischen Föderation begonnene Krieg gegen die Ukraine hat aber auch allen Europäern Ängste, Wirtschaftskrisen und eine dramatische Teuerung gebracht – die Folgen sind täglich spürbar, die extrem gestiegenen Energiepreise haben viele an den Rand ihrer Existenz gebracht.

Und besonders tragisch: In dem nun schon 21 Monate dauernden Krieg in der Ukraine sind vermutlich 100.000 Ukrainer sowie 150.000 russische Soldaten getötet worden, dreimal so viele wurden verwundet oder bleiben für ihr Leben lang nach Amputationen schwer behindert.

Jetzt lässt dazu Davyd Arakhamiia (44), der langjährige Berater und Parteifreund des ukrainischen Präsidenten und erfolgreiche IT-Start-up-Gründer, in einem aktuellen Interview mit der bekannten Journalistin Nataliia Moseichuk eine Bombe platzen: Der Krieg, so der Chef der Selenskyj-Partei “Diener des Volkes”, hätte nach nur 35 Tagen bereits beendet sein können.

Am 30. März sei eine ukrainische Verhandlungsdelegation mit einem Angebot Moskaus von einem Treffen in der Türkei nach Kiew zurückgekommen, sagt Arakhamiia, der die ukrainische Delegation bei Friedensgesprächen mit den Russen in Weißrussland und der Türkei im Jahr 2022 leitete: “Sie (die Russen, Anm.) hofften wirklich fast bis zum letzten Moment, dass sie uns zwingen würden, ein solches Abkommen zu unterzeichnen, damit wir Neutralität erlangen würden. Es war das Wichtigste für sie. Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir zustimmten – wie einst Finnland – Neutralität und die Verpflichtung, der NATO nicht beizutreten. Tatsächlich war dies der entscheidende Punkt. Alles andere war nur Rhetorik und politische Würze, wie die Entnazifizierung, die russischsprachige Bevölkerung und Blabla.”

Dawyd Arakhamiia mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Der Schlüsselsatz im aktuellen Interview.

Parteichef der Selenskyj-Fraktion deckt auf, was Boris Johnson sagte

Natürlich stellt dann die TV-Journalistin die Frage, warum die ukrainische Staatsspitze nicht auf dieses Angebot eingegangen ist – und Dawyd Arakhamiia antwortet: “Um diesem Punkt zuzustimmen, hätte die Verfassung geändert werden müssen. Unser Weg zur NATO ist in der Verfassung festgeschrieben.“ Zweitens gab es bei den Russen kein Vertrauen, dass sie es tun würden. Dies wäre nur möglich, wenn Sicherheitsgarantien vorhanden wären. Wir könnten nichts unterschreiben, zurücktreten, alle würden sich dort entspannen, und dann würden sie noch besser vorbereitet einmarschieren – weil sie tatsächlich unvorbereitet auf einen solchen Widerstand einmarschiert sind. Eine solche Gewissheit gibt es nicht.”

Und mit der nächsten Aussage bestätigt der Parteifreund Selenskyjs, was ohnehin schon seit langem vermutet worden ist: “Als wir aus Istanbul zurück waren, kam Boris Johnson nach Kiew und sagte: ,Wir unterschreiben überhaupt nichts mit ihnen (den Russen, Anm.). Lasst uns einfach kämpfen.’“

Arakhamiia meint allerdings, dass die ukrainische Delegation ohnehin nicht bereit gewesen sei, ein solches Dokument zu unterzeichnen, und er betont, dass Johnson Kiew zu nichts gezwungen habe. Laut Arakhamiia hatte die Delegation ja nicht einmal das Recht, etwas zu unterzeichnen – dies konnte nur theoretisch bei einem Treffen von Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin geschehen.

Dawyd Arakhamiia berichtet dann auch, dass die westlichen Partner über die Verhandlungen Bescheid wussten und die Entwürfe von den Dokumenten sahen, aber nicht versuchten, eine Entscheidung für die Ukraine zu treffen, sondern vielmehr Ratschläge gaben. „Sie haben uns tatsächlich davon abgeraten, kurzlebige Sicherheitsgarantien (mit den Russen, Anm.) einzugehen, die zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gegeben werden konnten“, sagt Arakhamiia, der die Verhandlungsdelegation leitete.

Das Fazit dieser neuen Aussagen zu den Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022: Dieses im Interview erwähnte “Lasst uns kämpfen”-Zitat des britischen Premiers Boris Johnson kann wohl kaum als ehrliches Bemühen für einen sofortigen Waffenstillstand zur Vermeidung von zehntausenden Todesopfern ausgelegt werden.

Er soll im März 2022 "Lasst uns kämpfen" gesagt haben: der britische Ex-Premier Boris Johnson hier mit Wolodymyr Selenskyj.
Der Fraktionschef der ukrainischen Partei "Diener des Volkes" Dawyd Arakhamiia (44) im TV-Interview.
Die aktuelle militärische Lage in der Ukraine.