Immer öfter dürfen kriminelle Migranten in Europa nicht abgeschoben werden – selbst bei Gewaltdelikten, Terrorverdacht oder Wiederholungstaten. Der Grund: die Rechtsprechung des EGMR, der sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) stützt.

Neun EU-Staaten fordern daher mehr nationalen Spielraum und eine Kurskorrektur – der exxpress berichtete. Doch aus der SPÖ kommt scharfer Widerstand.

SPÖ schlägt Alarm

Bayr warnt vor Druck auf den Gerichtshof. Die SPÖ-Politikerin und Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im Nationalrat nannte den Vorstoß Stockers „sehr problematisch“. Man dürfe zwar über Rechtsprechung diskutieren, „aber nicht öffentlich“. Die Auslegung der EMRK sei allein dem EGMR vorbehalten. Stockers Vorgehen würde „in letzter Konsequenz die Glaubwürdigkeit von Höchstgerichten unterminieren“.

Doch der Druck wächst. Die Zahl der umstrittenen Urteile steigt – und mit ihr die Kritik. Großbritannien denkt längst laut über den Ausstieg aus der EMRK nach. Für die frühere ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner ist die Konvention schlicht „aus der Zeit gefallen“.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – seine Urteile schützen immer öfter kriminelle Migranten vor der Abschiebung. Jetzt wächst der Protest.GETTYIMAGES/Wodicka/ullstein bild

Zwei Artikel im Fokus

Im Kern geht es um zwei Artikel der EMRK, deren Auslegung durch den EGMR weitreichende Folgen für ganz Europa hatte:

Artikel 3 (Folterverbot): Niemand darf abgeschoben werden, wenn ihm im Zielland Folter, unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe droht – selbst bei Terrorverdacht oder schwerer Kriminalität.

Unter Hinweis auf das Folterverbot untersagte der EGMR Abschiebungen etwa nach Ungarn oder Griechenland – wegen Haft, Obdachlosigkeit oder fehlendem Asylzugang.EMRK/Screenshot

Artikel 8 (Recht auf Familienleben): Auch vorbestrafte Ausländer dürfen nicht ausgewiesen werden, wenn sie familiär „verwurzelt“ sind – selbst bei Wiederholungstätern. Diese Auslegung ermöglicht auch das Recht auf Familienzusammenführung, das erhebliche Auswirkungen auf Österreich hatte.

Aus dem Schutz des Familienlebens leitete der EGMR das Recht auf Nachzug von Familienmitgliedern ab, und auf Verbleib im Land trotz Straffälligkeit, sofern die Familie im Land lebt.EMRK/Screenshot

Urteile, die unsere Sicherheit gefährden?

Mehrere Urteile sorgten für internationale Aufmerksamkeit:

1996: Ein islamistischer Extremist durfte nicht aus Großbritannien nach Indien abgeschoben werden – wegen möglicher Folter.

2008: Ein Terrorverdächtiger wurde vor der Abschiebung von Italien nach Tunesien geschützt – wegen drohender Misshandlung.

2008: Ein mehrfach vorbestrafter junger Bulgare durfte trotz zahlreicher Delikte in Österreich bleiben – weil er hier aufgewachsen war.

2014: Eine Familie durfte nicht von der Schweiz nach Italien zurückgeschoben werden – die Unterkunft sei dort nicht ausreichend garantiert.

Die Kritik an solchen Urteilen ist deutlich: Sie seien lebensfremd, untergraben das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat und stellen staatliche Sicherheitsinteressen hintan.

Boris Johnson (Bild) machte Druck: Der frühere britische Premier wollte sich nicht länger EGMR-Urteilen beugen – und brachte sogar einen Ausstieg Großbritanniens aus der Menschenrechtskonvention ins Spiel.GETTYIMAGES/Dan Kitwood

Großbritannien als Vorreiter: Rückzug vom EGMR wird diskutiert

Bereits 2020 forderten britische Konservative einen klaren Bruch mit dem EGMR. Der einflussreiche Jurist Martin Howe warf dem Gericht vor, die EMRK durch eine überdehnte Rechtsprechung „transformiert“ zu haben – entgegen dem Willen der ursprünglichen Vertragsstaaten.

Dominic Cummings, Berater von Premierminister Boris Johnson, kritisierte den Gerichtshof scharf: Er verhindere die Abschiebung gefährlicher Straftäter. Innenministerin Priti Patel sprach von einem „Missbrauch“ durch europäische Richter, und Ex-Verteidigungsminister Michael Fallon wollte das Menschenrechtsgesetz für Auslandseinsätze der britischen Armee aussetzen.

Johnson selbst ließ durchblicken, dass ein kompletter Ausstieg aus der EMRK denkbar sei – um die nationale Gesetzgebungshoheit zu sichern.

Sachslehner: EMRK ist „aus der Zeit gefallen“

Noch schärfer äußert sich die frühere ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner: Nicht nur die Auslegung der EMRK, sondern die Konvention selbst sei überholt. In einem exxpress-Kommentar nannte sie die mangelnde Reformbereitschaft „eines der größten Versagen der EU der letzten Jahre“ – weil die Konvention verhindere, dass kriminelle Migranten ausgewiesen werden. „Dass es ein europäisches Regelwerk gibt, das EU-Staaten dazu zwingt, selbst schwere Gewalttaten hinzunehmen und ihnen keine Handhabe gibt, die Täter des Landes zu verweisen, ist in höchstem Maße unverantwortlich.“

Sachslehner fordert eine grundlegende Überarbeitung: Die Realität seit 2015 – Massenzuwanderung, Kriminalität, Werteverfall – erfordere ein Umdenken. „Viele der Menschen, die zu uns nach Europa gekommen sind, treten unsere Werte mit Füßen. Und um dem etwas entgegenzusetzen, daran hindert uns leider in vielen Fällen die EMRK.“