Afghane im eXXpress-Interview: "Es gibt für Frauen keine Perspektive mehr"
Ein Afghane, der seit 2013 in Wien lebt, spricht mit dem eXXpress über die Lage in Afghanistan. Zum Schutz seiner Verwandten bleibt er anonym. Er und seine Frau haben Asyl erhalten, seit 2016 arbeitet er als freier Dienstnehmer bei einer Firma. Wegen seines Einsatzes für Frauenrechte wurde er daheim verfolgt.
Hat Sie der schnelle Sieg der Taliban überrascht?
Ja. Wir hatten genug Soldaten und genug Waffen, um sie aufzuhalten.
Viele Soldaten sollen übergelaufen sein. Wie erklären Sie sich das?
Zurzeit kursieren auch unzählige Videos von verzweifelten und weinenden Soldaten, die erklären, sie wären bereit gewesen zu kämpfen, doch ihre Kommandanten hätten sie dazu aufgefordert, sich kampflos zu ergeben. Das soll auch die Anweisung des Präsidenten gewesen sein, um Blutvergießen zu vermeiden. Das ist eine enorme Enttäuschung, nicht nur bei Soldaten, sondern auch für meine Freunde und Verwandten in Afghanistan. Manche vermuten einen schmutzigen Deal mit den USA. Die Armee war in der Überzahl. An einigen Orten hat sie alles ein paar hundert Taliban überlassen.
"Meine Verwandten verlassen nicht das Haus"
Wie hat Ihre Familie in Afghanistan auf den Vormarsch der Taliban reagiert?
Meine Familienangehörigen leben in der Provinzhauptstadt Ghazni (Anm. dreieinhalb Autostunden von Kabul entfernt). Vor zwei Wochen sind sie zu Bekannten nach Kabul geflohen.
Wie ist die Lage dort?
Meine Verwandten verlassen zurzeit – so wie viele andere – nicht das Haus. Viele Geschäfte und Banken haben geschlossen. Die Menschen haben Angst. Alles ist nun teurer. Ein paar Leute dürften es geschafft haben, über den Flughafen das Land zu verlassen, aber momentan kann man nicht aus Kabul fliegen. Die Taliban kontrollieren die Straßen.
"Wir glauben nicht an eine friedliche Herrschaft der Taliban"
Macht sich die Herrschaft der Taliban ansonsten schon bemerkbar?
Es kursieren bereits Videos von Dieben, die von den Taliban geschlagen werden. Gegenüber der Öffentlichkeit erklären die Taliban, sie wollen niemanden angreifen und eine friedliche Herrschaft anstreben. Wir glauben nicht, dass das so bleiben wird, denn wir haben das alles schon einmal erlebt.
Sie meinen die Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001?
Ich bin gerade in die Volksschule gegangen, als die Taliban an die Macht gelangt sind. Damals hat es geheißen: Die Taliban sind nicht so schlimm, Hauptsache der Krieg ist vorbei: Alles wird gut. Am Anfang war die Situation tatsächlich nicht so schlimm. Doch dann kamen die Probleme: Die Taliban wurden immer strenger, sie beschnitten die Rechte der Frauen, die sich öffentlich mit Burka verschleiern mussten. Männer mussten sich einen Bart wachsen lassen. Kriminellen wurde die Hand abgeschnitten. Ich kann mich noch erinnern, als Diebe öffentlich erschossen wurden.
Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, aber wir rechnen damit, dass es diesmal nicht anders sein wird.
"Meine Familie will weg aus Afghanistan"
Was tun Ihre Verwandten jetzt?
Meine Familie will weg aus Afghanistan, sie weiß aber noch nicht wohin. Vermutlich will sie nach Tadschikistan, Pakistan oder den Iran, um dort in den Botschaften um Asyl anzusuchen. Auch ein Schulfreund von mir – er hat eine gute Ausbildung und hat sich in den vergangenen Jahren für Menschenrechte eingesetzt – will das Land verlassen. Meine Schwägerin ist traurig: “Ich habe so viel gelernt und nun muss ich zu Hause bleiben.” Sie hat die Schule abgeschlossen und an der Uni studiert und in den vergangenen Jahren Kindern Nachhilfeunterricht erteilt. Doch nun gibt es für gebildete Frauen keine Perspektiven mehr.
Welcher Volksgruppe gehört Ihre Familie an?
Wir gehören zur Gruppe der Hazara. Wir stammen von den Mongolen unter Dschingis Khan ab. Die Hazara sind Schitten und wegen ihres Aussehens sofort erkennbar. Uns ging es unter den Taliban besonders schlecht. Wir bekamen nie Posten in staatlichen Diensten. Viele Hazara wollen studieren. Bei Schulen, die von Hazara besucht wurden, gab es in der Vergangenheit immer wieder Anschläge der Taliban. Sogar Kinder wurden ermordet. In Kabul wurde bereits bei einem Kreisverkehr eine schiitische Fahne durch eine der Taliban ersetzt. Viele Afghanen, die nach Österreich geflohen sind, gehören der Gruppe der Hazara an.
"Ich hoffe noch immer auf ein friedliches Afghanistan"
Die Taliban gingen aus den Reihen der größten Volksgruppe, der Paschtunen, hervor. Spielt das noch heute eine Rolle?
Ja. Das ist noch immer so. In den Jahren 2001 bis 2021 kamen alle Taliban aus den paschtunischen Städten.
In der afghanischen Provinz Pandschschir hat sich eine Widerstandsgruppe rund um Ahmad Massoud, den Sohn des afghanischen Nationalhelden Ahmad Schah Massoud, formiert. Würden Sie eine Herrschaft unter Massoud vorziehen?
Ja, das wäre besser. Eine Herrschaft unter Massoud wäre besser. Er gehört den Tadschiken an. Ich hoffe noch immer auf ein Afghanistan, in dem alle friedlich miteinander leben und in dem Frauen dieselben Rechte haben.
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