Kopftuchverbot in Österreich: Liberale Muslimin nennt Strafen „viel zu gering“
Sie ist eine der schärfsten Kritikerinnen religiöser Unterdrückung in Deutschland: Menschenrechtlerin Seyran Ates warnt im Welt-TV-Interview vor den Folgen früher Verhüllung – und nennt die geplanten Strafen beim österreichischen Kopftuchverbot „viel zu gering“. Es brauche ein deutlich härteres Durchgreifen zum Schutz der Mädchen.
Wenn Mädchen unter 14 künftig mit Kopftuch im Schulunterricht erscheinen, drohen ihren Eltern Geldstrafen.APA/HERBERT NEUBAUER
Wenn es um Kopftuch tragende Mädchen geht, hält Seyran Ates nicht lange hinterm Berg: „Das, was Eltern ihren kleinen Töchtern antun, ist Missbrauch von Elternrecht.“ Im Übrigen: „Es gibt kein Kopftuchgebot im Koran. Punkt.“ Und: „Die Strafen in Österreich sind viel zu gering – das muss richtig weh tun.“
Mit diesen drastischen Worten hat die bekannte Frauen- und Menschenrechtlerin Seyran Ateş im Interview mit Welt TV die geplanten österreichischen Regeln zum Kopftuchverbot für minderjährige Mädchen kommentiert, die sie grundsätzlich begrüßt. Das Verhüllen kleiner Mädchen sei nicht nur kein religiöses Gebot, es sei ein kulturelles Konstrukt, das Mädchen massiv in ihrer Entwicklung einschränke: „Das Kopftuch ist kein Gebot. Es ist eine Interpretation.“
Österreichs neues Gesetz – Geldstrafen und Aufklärung
Integrationsministerin Claudia Plakolm (ÖVP) hat das Kopftuchverbot für unter 14-Jährige an Österreichs Schulen nun vorgestellt. Ihr Argument: Das Kopftuch sei ein Symbol der Unterdrückung, es schränke Sichtbarkeit, Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten junger Mädchen ein.
Eltern, die ihre Töchter trotzdem mit Kopftuch in den Unterricht schicken, sollen künftig mit Geldstrafen von bis zu 1000 Euro rechnen. Begleitend setzt das Gesetz auf Präventions- und Aufklärungsprogramme, um muslimische Mädchen zu stärken und Abhängigkeiten zu reduzieren.
Ateş: „Das ist übergriffig Kindern gegenüber“
Für Seyran Ateş geht das Gesetz in die richtige Richtung – aber nicht weit genug: „Wir brauchen viel mehr Aufklärung. Viel, viel mehr. Und die Strafen sind viel zu gering. Das muss den Eltern richtig weh tun.“ Das Verhüllen junger Mädchen gehe weit über das Kopftuch hinaus: „Es geht ja nicht nur um die Haare. Es geht darum, dass Ärmel bis zum Handgelenk reichen müssen, dass kein bisschen Haut gezeigt werden darf – selbst im Hochsommer. Das macht etwas mit einem Kind.“ Sobald man nur ein kleines bisschen Haut sieht, fühlte sich die muslimischen Mädchen dann nackt.
Ateş warnt: „Diese Mädchen lernen von klein auf, dass ihr gesamter Körper Sexualität darstellt. Das ist überbordend, es ist übergriffig.“
„Heilige Schriften aus dem 7. Jahrhundert“ – und die Frage der Zeitgemäßheit
Ateş verweist darauf, dass die religiösen Texte des Islams nicht wörtlich in die Gegenwart übertragen werden können: „Wir sprechen über Schriften aus dem siebten Jahrhundert. Selbst wenn dort ein Kopftuchgebot stünde – was es nicht tut – wäre die Frage, ob das heute zeitgemäß ist.“
Sie erinnert daran, welche Vorstellungen in diesen alten Texten stehen: „Da steht wörtlich, dass die Zeugenaussage von Frauen vor Gericht nur halb so viel wert ist wie die von Männern. Und dass Frauen weniger erben. Daran hält sich heute auch niemand mehr.“
„Blaupause für die ganze Welt“
Ateş hofft, dass Österreichs Gesetz eine internationale Vorbildwirkung entfalten kann: „Ich hoffe, dieses Verbot wird eine Blaupause für die ganze Welt.“
Sie erinnert an die Moden im 20. Jahrhundert. „Österreicherinnen und Norwegerinnen haben sich davon befreit, in langen Röcken Ski fahren zu müssen, oder Hüte tragen zu müssen. Frauenmode wurde immer dazu benutzt, Frauen eine bestimmte Moral und Sittlichkeit aufzudrücken. Insofern ist die Debatte sehr wichtig. Es ist eine Blaupause, auch für uns.“
„Linksliberale sollten es selbst ausprobieren“
Sie hat auch eine provokante Empfehlung an all jene, die das Verbot in Österreich kritisieren: „Ich würde allen Linksliberalen raten: Verhüllt euch einen Monat lang. Und verhüllt eure Töchter. Dann werdet ihr erleben, was diese Einschränkung bedeutet.“
„Mädchen müssen ihre Individualität entwickeln dürfen“
Ateş betont, dass es bei dieser Debatte nicht um Religion geht, sondern um kindliche Freiheit: „Kleine Mädchen, die gerne mit ihren Haaren spielen, sollen dieselben Chancen haben wie alle anderen – egal aus welchem Haushalt sie kommen.“
Und: „Es ist Missbrauch von Elternrecht, wenn man Kindern eine Körperlichkeit aufdrückt, die voller Schamgefühle ist.“
Seyran Ateş, 1963 in Istanbul geboren und seit ihrer Kindheit in Berlin lebend, ist die Tochter einer türkischen Mutter und eines kurdischen Vaters. Sie machte sich zunächst als Menschenrechtsanwältin im Straf- und Familienrecht einen Namen und zählt heute zu den bekanntesten muslimischen Feministinnen Europas. Seit Jahrzehnten kämpft sie gegen Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde und patriarchale religiöse Strukturen.
International bekannt wurde sie 2017, als sie in Berlin die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gründete – die erste Moschee Deutschlands, in der Frauen und Männer gemeinsam beten. Ihr Engagement brachte ihr zahlreiche Morddrohungen ein, weshalb sie unter ständigem Polizeischutz steht. Ateş gilt heute als eine der schärfsten Stimmen gegen religiös begründete Unterdrückung.
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