Lehrer-Demo-Chef: „Immer mehr Kinder autistisch, nicht beschulbar oder koten ein“
Radikalisierung, Gewalt, überfordertes Personal: 700 Wiener Pflichtschullehrer sagen: „Wir schaffen das nicht mehr!“. Der Lehrergewerkschafter Thomas Krebs spricht mit exxpress über die Zustände an den Schulen und was dringend geändert werden müsste.
„Wir wissen von den Gewaltübergriffen und wie oft es Polizei-Einsätze an Schulen gibt. Das ist erschreckend. Da wird seit Jahren einfach weggesehen“, sagt ÖVP-Gemeinderätin Laura Sachslehner bei exxpress live. Thomas Krebs, Wiens oberster Pflichtschullehrervertreter (FCG) schlägt Alarm und spricht im Interview von fehlenden Schulsozialarbeitern und -psychologen und warum er sich mehr Zusammenarbeit mit der Grätzlpolizei wünscht.
Was sind die brennendsten Probleme an Wiener Pflichtschulen?
Es ist ein Zusammenspiel von wirklich großen Problemfeldern. Ganz oben stehen die Themen Personalmangel, fehlender Support, mangelnde Sprachkenntnisse bei den Schülern, Respektlosigkeiten, Übergriffe. Wir haben eine Behörde, die uns nicht so unterstützt, wie wir es brauchen. Wir brauchen auch eine Ausbildung, die Kollegen wirklich auf den Beruf vorbereitet, damit es keine negativen Überraschungsmomente gibt.
Welche Art von Support fehlt den Lehrer denn?
Wir Lehrer kommen nicht mehr zum Unterrichten. Support heißt für mich, eine Trennlinie zu ziehen: Wo endet die pädagogische Arbeit, wo beginnen andere Tätigkeiten und wer übernimmt diese. Wir sind überfordert. Bei der Frage: „Wer fehlt euch am meisten?“, nennen die Kollegen Sekretariatskräfte, Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen. An den Schulen fehlt es an Beratung in extremen Situationen, wie zum Beispiel Gewalt an den Schulen, Eskalation, Radikalisierung. Die Kollegen würden sich viel mehr Zusammenarbeit mit der Grätzlpolizei wünschen. Dann ist da der Bereich des medizinisch-Pflegerischen: Es gibt immer mehr Kinder mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Epilepsie. Es gibt immer mehr Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf. Autismus nimmt stark zu. Immer mehr Schüler sind auch aufgrund ihres Verhaltens nicht beschulbar, gehen aber trotzdem in die Schule.
Welche Maßnahmen müssten von der Wiener Stadtregierung sofort umgesetzt werden?
Die erste Maßnahme muss sein: Offene Diskussion, kein Leugnen oder Relativieren von Problemfeldern. Zu Beginn des Schuljahres hieß es: Wir haben genug Personal. Das war aber falsch. Die Rückmeldungen aus den Schulen waren andere, als Politik und Bildungsdirektion mitgeteilt haben. Wenn wir nicht genug Personal haben, muss man es ansprechen. Wie groß ist der Personalstand tatsächlich? Das werden Sie aus der Bildungsdirektion zum Beispiel nie erfahren.
Land und Bund geben sich nun gegenseitig die Schuld an den Missständen. Können Sie bitte klarstellen, wer für die Wiener Pflichtschulen verantwortlich ist? Ist es Bildungsminister Polaschek (ÖVP) oder Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (NEOS)?
Unsere erste Ansprechstelle ist das Land. Aber es gibt natürlich Bundesgesetze, die uns betreffen, zum Beispiel das Schulunterrichtsgesetz oder das Dienstrecht der Lehrer. Die Schulpsychologie ist eine Einrichtung des Bundes. Die Sekretariatskräfte sind eindeutig eine Wiener Angelegenheit. Allgemein lässt sich sagen, dass die Kompetenzen bei etwa zwei Drittel der Bereiche bei Wien selbst liegen und bei einem Drittel beim Bund. Doch die Schuldzuweisungen bringen uns Lehrern nichts. Ich erwarte mir eine gute Kooperation zwischen Land und Bund. Wien hat eine eigene Dynamik. Wien braucht andere Lösungen als die anderen Bundesländer.
„Das Digitalisierungspaket wurde bisher nicht umgesetzt“
Ende August hat Wien ein neues Unterstützungspaket für Pflichtschulen geschürt. Darin enthalten sind eine Aufstockung von Sekretariatskräften um 150 Personen, mehr Fachkräfte für Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf, mehr Schulsozialarbeiter und Freizeitpädagogen. Sind das sinnvolle Maßnahmen?
Das sind sinnvolle Maßnahmen. Es müsste aber ein flächendeckendes Angebot sein. Wir haben zum Beispiel sogenannte Integrationsfachkräfte. Das sind angelernte Leute, die einfache medizinische und pflegerische Dienste übernehmen, zum Beispiel Kinder wickeln. An den Schulen gibt es ganz viele Kinder, die einkoten. Dieses Angebot wurde aufgestockt von zehn auf 30 Personen. Das ist in relativen Zahlen mehr als eine Verdreifachung gewesen, aber wir sind meilenweit entfernt von dem, was wir brauchen. Wir haben 520 Pflichtschulen. Die Stadt Wien meint, dass es knapp 80 Sozialarbeiter gibt. In der Relation zu 520 Standorten ist das nicht genug.
Bildungsstadtrat Wiederkehr hat das gratis Öffi-Ticket für alle Pflichtschullehrer eingeführt. Bereits 2023 hat er ein Digitalisierungspaket mit Laptop für jeden Lehrer angekündigt. Wurde das umgesetzt?
Das Digitalisierungspaket wurde bisher nicht umgesetzt. Dieser Bereich hinkt ganz stark. So eine Initiative beansprucht die Lehrer aber sehr. Wer setzt all diese Geräte auf? Das machen die Lehrer meist irgendwann am Wochenende und in ihrer unterrichtsfreien Zeit. Die Wartung der Geräte ist im Pflichtschulbereich nicht gewährleistet. Das machen meist ein paar Freiwillige. Lehrergeräte sind Mangelware.
Das gratis Öffi-Ticket ist eine super Sache, aber: Fast ein Drittel der Wiener Lehrer pendelt. Pendler können eine gratis Wiener-Linien-Karte beziehen, aber dann wird die Pendlerpauschale gekürzt. Viele Pendler fühlen sich entsprechend schlecht behandelt. Das kann dazu führen, dass ein Lehrer, wenn er ein Angebot in der eigenen Heimatgemeinde findet, sich überlegen, nicht mehr nach Wien zu pendeln.
„Schule bildet Gesellschaft ab“
Die niederösterreichische Landeshauptfrau Mikl-Leitner fordert vom Bund die Änderung des Schulpflichtgesetzes. Integrationsunwillige Schüler sollten Strafen bis zu 2.500 Euro zahlen. Wie sinnvoll halten Sie diesen Vorschlag?
Ich halte hier eine ehrliche Diskussion für dringend angebracht. Es braucht Maßnahmen. Respektlosigkeiten, die ungeahndet bleiben, werden weitere und vermehrte Respektlosigkeiten hervorrufen. Schule bildet Gesellschaft ab. Es darf nicht dazu kommen, dass die, die sich korrekt verhalten, in einem System irgendwann die Dummen sind. Sie müssen erleben: Wer sich nicht an Regeln hält, muss mit Sanktionen rechnen.
Als Reaktion auf die Aufdeckung des IS-Netzwerks in St. Pölten fordert der Innenminister nun 160 speziell ausgebildete Schulpolizisten und Präventionsarbeit an Schulen. Ist das ein sinnvoller Ansatz, um Schulen sicherer zu machen?
Ich unterstütze das sehr und halte es für wichtig. In Wien haben wir hier eine Vorreiterstellung. Es gibt schon Grätzlpolizisten. Ob das eine Schule hat, ist aber oft von persönlichen Kontakten abhängig. Die Frage ist, ob es diese Schulbeamten gibt, auch die Polizei hat nicht Personal im Übermaß.
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