Die gegenwärtige Protestwelle in Deutschland, verbunden mit einer hohen Unzufriedenheit, sieht Prof. Markus C. Kerber zunächst einmal gelassen. Während andere eine Gefahr für die Demokratie orten, sieht Kerber genau das Gegenteil: „Deutschland ist eine erwachsene Demokratie, die sich als solche verteidigte und in ihren Grundfesten nicht erschütterbar ist“.

In Deutschland wächst der Unmut über die Unprofessionalität der Regierung

Der Unmut über die deutsche Regierung liege vor allem an der Unprofessionalität der Politik. „Selbst diejenigen, die diese Regierung unterstützen, stellen die Professionalität dieser Ampelkoalition zunehmend in Frage. Die Unruhen sind letztlich darauf zurückzuführen, dass sich die Deutschen nicht professionell regiert fühlen“, kommentiert Kerber, der Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft an der TU Berlin lehrt.

Prof. Markus C. Kerber im Interview auf eXXpressTVeXXpressTV

Ein zentrales Problem der deutschen Bundesrepublik sei aber ihre völlige Strategielosigkeit. Mit ihr hat sich Kerber kürzlich in seiner Schrift „Führung und Verantwortung. Das Strategie-Defizit Deutschlands und seine Überwindung“ (Edition Europolis) befasst. Gegenwärtig wolle Deutschland primär gelobt werden und suche in Brüssel und anderswo den Applaus. Deshalb verhalte sich Berlin gegenüber Wünschen der EU und anderer Staaten stets folgsam.

„Herr Borrell definiert die EU-Nahostpolitik ohne Diskussion!“

In Wahrheit müsse sich Deutschland zu einem Antipoden von Josep Borrell werden. Dieser gebe zurzeit eigenmächtig außenpolitische Linien vor, die nie mit den Mitgliedsstaaten besprochen wurden. Jüngstes Beispiel: der Nahostkonflikt. „Herr Borrell definiert im Namen der Europäische Union eine Nahostpolitik und sagt, die Europäische Union wolle eine Zwei-Staatenlösung, ohne dass das jemals diskutiert wurde.“

Überdies sei diese Haltung auch falsch. Man habe eben gesehen, „was im Namen Osten passiert, wenn man einen kleinen Küstenstreifen wie Gaza zur Gänze arabischem Einfluss überlässt. Kann man denn ernsthaft glauben, dass die Schaffung eines Staates mit einem Militär dazu führen würde, dass der Nahe Osten pazifiziert wird?“ Gegen diese „Anmaßungen aus Brüssel und insbesondere des Herrn Borrell müsste man sich mit allen Mitteln wehren. Das kann nur Deutschland.“

Deutschland müsste seine Interessen definieren und Verbündete suchen

Nötig sei vor allem eins: Deutschland müsste „seine eigenen Interessen definieren und für sie Verbündete in Mittel- und Osteuropa suchen. Ich meine etwa Tschechien, die Slowakei, natürlich auch Österreich.“ Das ewige Schielen auf Frankreich sei hingegen kontraproduktiv.

Bundeskanzler Olaf Scholz (l.) schüttelt dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron (r.) im Kanzleramt die Hand: Das ewige Schielen auf Paris ist kontraproduktiv, sagt Prof. Kerber.APA/AFP/John MACDOUGALL

Doch Deutschland legt sich nicht fest, wenn es um seine Interessen geht, „weil es vor allem Beifall bekommen möchte. Doch diese Zeit ist vorbei.“ Für ein Land von einer solchen Größe sei es ein Unding, auf das Definieren von Interessen zu verzichten. In Berlin müsse man erkennen, dass Deutschland „die Macht in der Mitte Europas ist und mehr politische Verantwortung übernehmen muss“.

„Der Traum vom friedlichen Europa ist ausgeträumt“

Vor allem seit dem Ukraine-Krieg trete diese Orientierungslosigkeit offen zutage, denn die jetzige Situation ist „neu für Deutschland: Der Traum vom friedlichen Europa ist ausgeträumt. Die Politik der Freundschaft funktioniert nicht.“ Um einen Wechsel zu schaffen, vor allem in der Sicherheitspolitik sei „Schaffung der Position eines nationalen Sicherheitsberaters“ sinnvoll. Diese Funktion hatte einst Henry Kissinger in den USA übernommen. „Deutschland braucht eine außenpolitische Orientierung, die über die Tagespolitik hinausgeht. Ein nationaler Sicherheitsberater könnte wohltemperierte Vorschläge für die Strategie des Landes unterbreiten.“

Prof. Kerber (r.) im TV-Talk mit eXXpress-Redakteur Stefan Beig (l.)eXX

Eine wichtige Rolle werde auch die Rüstungsindustrie übernehmen, den sie „ist das technologische Rückgrat der Souveränität. Deutschland muss unabhängig sein, nicht abhängig von französischen Lieferketten oder Entwicklungen. Deutschland kann und muss Produkte in nationaler Verantwortung produzieren. Eine Emanzipation von Frankreich auf dem Gebiet der Rüstungskooperation ist notwendig.“