Nun hat sich Russlands ehemaliger Außenminister Andrei Wladimirowitsch Kosyrew (70) in die Debatte rund um Putins Geisteszustand und seine Drohung eines nuklearen Angriffs eingeschaltet. “Um es kurz zu machen: Ich glaube nicht, dass Russland Atomwaffen einsetzen wird, und ich halte Putin für einen rationalen Akteur”, erklärte in einem langen Thread auf Twitter.

Eine russische Atomrakete rollt während der Militärparade zum 75. Jahrestag der Niederlage der Nazis am 24. Juni 2020 in Moskau über den Roten Platz.getty

Kosyrew hatte unter der Regierung Boris Jelzins von 1990 bis Anfang 1996 das Amt des Außenministers inne. Wegen seiner kompromissbereiten Haltung gegenüber dem Westen und gegenüber der Nato wurde er damals im russischen Parlament heftigst attackiert – und am Ende entlassen. Heute lebt Kosyrew in Miami in den USA.

Drohung mit Atomwaffen ist "letzte verbliebene Karte"

Putin werde zumindest nicht absichtlich Atomwaffen gegen den Westen einsetzen. Höchstens könne ein wahlloser Beschuss in der Nähe eines Kernkraftwerks “eine ungewollte nukleare Katastrophe in der Ukraine auslösen”.

Kosyrew im Jahr 1994 als Außenministergetty

Die Drohung mit einem Atomkrieg beweise gerade Putins Rationalität. Der Ukraine und dem Westen könne der Kreml nämlich nur dann Zugeständnisse abringen, wenn er “seine letzte verbliebene Karte” ausspielt, nämlich die Drohung mit Atomwaffen. Deshalb solle der Westen aus Angst vor einem Atomkrieg keine einseitigen Zugeständnisse machen oder seine Unterstützung für die Ukraine zu sehr einschränken.

Entscheidung zur Invasion nicht irrational

Im Gegensatz zu vielen Menschen im Westen hält Kosyrew auch Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, keineswegs für irrational: “Sie ist entsetzlich, aber nicht irrational.”

Drei Überzeugungen Putins seien ausschlaggebend für die Invasion gewesen. Sie betreffen den Zustand der Ukraine als Land, den Zustand des russischen Militärs und die geopolitische Lage des Westens.

Kurz vor Beendigung seiner Tätigkeit als russischer AußenministerAPA/AFP PHOTO

Ukraine zu kreml-freundlichem Kurs zwingen

Mit Blick auf Putins Überlegungen zur Ukraine erklärt Kosyrew: “Putin hat die vergangenen 20 Jahre in dem Glauben verbracht, dass die Ukraine keine echte Nation ist und bestenfalls ein Satellitenstaat sein sollte. Der Euromaidan (Proteste Ende 2013/Beginn 2014 in der Ukraine) beendete jede Hoffnung, die Ukraine unabhängig und kremlfreundlich zu halten.” Putin dachte, der Westen stecke dahinter.

Pro-europäische Demonstranten am 11. Dezember 2013 auf dem Maidan-Platz in Kiew. Tagelang demonstrierten zeitweise Hunderttausende Menschen in Kiew gegen den pro-russischen Präsident Viktor Janukowitsch. APA/HELMUT FOHRINGER

Wenn die ukrainische Regierung nicht kremlfreundlich gehalten werden könne, müsse man sie eben dazu zwingen. Putin “begann auch seinen eigenen Propagandisten zu glauben, dass die Ukraine von einer Nazi-Bandera-Junta regiert wird. Ein perfekter Vorwand für die ‘Entnazifizierung’ der Ukraine.

Russlands "Potemkinsches Militär"

Zum Zustand des russischen Militärs sagt der ehemalige Außenminister:

“Der Kreml hat die vergangenen 20 Jahre damit verbracht, sein Militär zu modernisieren. Ein großer Teil dieses Budgets wurde gestohlen und für Mega-Yachten auf Zypern ausgegeben. Aber als Militärberater kann man das dem Präsidenten nicht melden. Also haben sie ihm stattdessen Lügen überbracht. Potemkinsches Militär”

Russlands Armee ist nicht so mächtig, wie Putin glaubt, behauptet der ehemalige Außenministergetty

Russlands Elite glaubt eigener Propaganda

Was schließlich die Wahrnehmung des Westens betrifft, so glaube russische Führungselite ihrer eigenen Propaganda, der zufolge US-Präsident Joe Biden “geistig unfähig” sei. “Sie dachte auch, die EU sei schwach, weil ihre Sanktionen 2014 zahnlos waren. Und dann haben die USA ihren Abzug aus Afghanistan verpfuscht, was diesen Narrativ verfestigte.”

1993: Im Gespräch mit dem damaligen US-Außenminister Warren Christopher (r., 1925 bis 2011)getty

Für jemanden, der alle drei Punkte für wahr halte und gleichzeitig “den Ruhm des Russischen Reiches wiederherstellen” wolle, sei die Invasion in die Ukraine daher absolut vernünftig. Putin habe sich in allen drei Punkten verrechnet, “aber das macht ihn nicht wahnsinnig. Es ist einfach falsch und unmoralisch.”