So beschreibt der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter den Niedergang der freien Marktwirtschat in seinem 1942 erschienen „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie.“ Schumpeter, der den intellektuellen Spagat schaffte, sowohl ein Verteidiger des Kapitalismus als auch ein Bewunderer von Karl Marx zu sein, erfasste früher als andere, dass wirtschaftlicher Erfolg kein Ersatz für spirituelle Erfüllung sein kann. Er ähnelt damit dem großen deutschen Soziologen Max Weber, welcher die kulturellen Wurzeln des Kapitalismus im Protestantismus findet, aber ebenfalls konstatiert, dass sich der Druck der wirtschaftlichen Rationalisierung, welcher dem Kapitalismus innewohnt, irgendwann gegen seinen spirituellen Ursprung wenden wird.

Kapitalismus als Wirtschaftssystem ist eine objektive Tatsache

Um eine Diskussion gleich vorweg zu beenden (und mich für exzessives name-dropping zu entschuldigen), die Überlegenheit des Kapitalismus als Wirtschaftssystem ist mehr eine objektive Tatsache als eine persönliche Meinung. In seiner Studie über die wirtschaftliche Entwicklung des globalen Südens und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zeigt Steven Radelet, dass die Anzahl von Entwicklungsländer, deren jährliches Wachstum über 2 % liegt, in den letzten Jahren von 21 auf über 71 Staaten angestiegen ist. Zwei Prozent scheinen nicht viel zu sein, bedeuten aber für Millionen von Menschen eine Verdoppelung ihres Einkommens und die damit verknüpften Zugänge zu besserer Bildung, Gesundheitssystemen und einer längeren Lebenserwartung. Ermöglicht wurde dieser Erfolg beinahe ausschließlich durch eine Liberalisierung der Wirtschaft, die nur leider nicht überall gleich erfolgreich verlaufen ist. Aber die Armut in einem Großteil Afrikas ist marxistisch geprägten Kleptokraten wie Zimbabwes Robert Mugabe zu „verdanken“, dem es gelungen ist, die Kornkammer Afrikas an den Rand einer permanenten Hungersnot zu führen. Auch in Lateinamerika war es weniger der westliche Imperialismus als eine katastrophale Wirtschaftspolitik, welche Venezuela von einem der reichsten in eines der ärmsten Länder des Kontinents verwandelte, welches mittlerweile mehr Flüchtlinge produziert hat als der Bürgerkrieg in Syrien.

Wahrscheinlich wäre auch die Entwicklungshilfe des Westens besser gewesen wenn in den Studentenzimmern statt Che Guevara und Ho Chi Minh Poster von Lee Kuan Yew (Singapurs erster Premierminister) oder Roh Tae-woo (Südkoreas erster demokratisch gewählter Präsident) hängen würden. 1965 war Singapur ökonomisch auf demselben Niveau wie Chile, Argentinien und Mexiko, Südkorea ungefähr gleich arm wie Ägypten. Heute sind die beiden asiatischen Staaten fast sechsmal so reich wie ihre damaligen ökonomischen Zwillinge. Überhaupt spricht man in postkolonialen Studiengruppen und antikapitalistischen Kolumnen nur äußerst ungern über Asien, da diese das eigene Weltbild zu sehr stören würden. Diese Ablehnung beruht übrigens auf Gegenseitigkeit, wie die Aussage eines ehemaligen Politikers Singapurs belegt: Dinge, die man in seinem Land nie akzeptieren würde, seien „Hippies und Kritik an multinationalen Unternehmen.“

Schumpeters Prognosen näher der Realität als jene von Marx

Womit wir wieder bei Schumpeter angelangt wären, dessen Prognosen wesentlich mehr mit der Realität gemein haben als jene des von ihm bewunderten Marx. Beinahe jede Kolumne eines Jakob Augstein oder einer Margarete Stokowski die sich den Systemwechsel herbeiwünschen bestätigen den Typus des wirtschaftlich wohlhabenden Intellektuellen, die aus lauter Langweile die Ursache des eigenen Wohlstandes zu Grabe tragen möchte. Ohne es zu wollen hat Schumpeter einen Art ideologischen Lackmustest entwickelt, der uns auch hilft viele der zeitgenössischen ideologischen Strömungen besser zu verstehen. Für ihn war es vor allem die kulturelle & spirituelle Obdachlosigkeit als Folge der Niedergangs der Religion welche zu neuen, kapitalismusfeindlichen Ideologien führen würde, welche dann den Platz des Religiösen einnehmen würden.

Klimabewegung erweist sich als religiös

Die moderne Klimabewegung beispielsweise erweist sich mittlerweile mehr als religiöse denn als wissenschaftliche Bewegung. Das bedeutet natürlich nicht, dass der Klimawandel kein wichtiges Thema sei, im Gegenteil, aber gerade wegen der Wichtigkeit sollte man das Feld vielleicht eher trockenen Wissenschaftlern wie William Nordhaus und weniger jugendlichen Aktivisten wie Luisa Neubauer oder Greta Thunberg überlassen. Wenn Neubauer über den Systemwechsel twittert, Fridays for Future das Ende des Kapitalismus herbeisehnt und die Auftritte Thunbergs immer mehr wie religiöse Messen aussehen, werde ich misstrauisch. Wenn der ehemalige Erzbischof von Canterbury, Sir Rowan Williams, Greta Thunberg dann auch noch zu einer von Gott gesandten Prophetin verklärt, greife ich zur Beruhigung zu Alexander Neubachers (immerhin SPIEGEL Redakteur) „Ökofimmel: Wie wir versuchen, die Welt zu retten – und was wir damit anrichten“ oder Michael Shellenbergers „Apocalypse Never: Why Environmental Alarmism Hurts Us All.“ Nordhaus und Shellenberg sind daran interessiert, wie man die Klimakrise realistisch lösen könnte – durch Anreize, Innovation und vor allem Wirtschaftswachstum, welches jene Technologien erst leistbar macht, welche die Klimakatastrophe verhindern könnten. Neubauer und Thunberg hingegen vertreten einen religiösen Absolutheitsanspruch, demzufolge nur kollektive Selbstgeißelung durch Wohlstandsverzicht die Lösung sein kann – ein primär technisches Problem wird hier in eine moralisch-religiöse Weltanschauung umgedeutet, in der es Heilige und Sünder gibt, die dementsprechend bestraft und belohnt werden müssen. Deshalb dürfen Klimaaktivisten auch weiterhin zu Luxusgipfeln nach Davos fliegen, während dem VW Arbeiter in Wolfsburg der Mallorca Urlaub verboten wird.

Klimabewegung als Ersatzreligion

Aber nicht nur die Klimabewegung zeigt Anzeichen, zu einer Art Ersatzreligion zu werden. Als im Sommer 2020 im Zuge der Ermordung von George Floyd weltweit Proteste ausbrachen, um gegen Polizeigewalt und Rassismus zu demonstrieren, war dies sicher in vielen Fällen von guten Intentionen geleitet. Wer sich jedoch näher mit den Zielen der offiziellen Black Lives Matter Bewegung auseinandersetzt, sollte sich einen gesunden Skeptizismus bewahren. Abgesehen von den üblichen marxistischen Strömungen, die sich in nahezu jeder westlichen Protestbewegung heutzutage finden (wie von Schumpeter erwartet), ist es fraglich, ob sich die Situation von Afroamerikanern dank BLM tatsächlich verbessert hat. Glenn Loury und Roland Fryer – beide selbst Afroamerikaner und Ökonomen an der Brown University und Harvard – belegen statistisch auf beeindruckenden Weise, dass weniger Polizei zu mehr Gewaltopfern in der schwarzen Bevölkerung führt. Die „Defund the Police“ Bewegung hat zu einer geringeren Polizeipräsenz in Problemvierteln geführt, mit der Folge, dass die Mordrate vielerorts um über 30 % angestiegen ist. Die Opfer dieser Morde sind größtenteils Afroamerikaner. 8.600 Schwarze wurden 2020 zu Mordopfer, ein Anstieg um über 1.000 im Vergleich zu 2019 (7.484). In Chicago sind 80 % der Opfer von Waffengewalt schwarz, in New York City 71 %. In 90 % der Fälle sind sowohl Opfer als auch Täter schwarz, aber diese Zahlen scheinen kaum jemanden zu kümmern. Die Wahrscheinlichkeit als Afroamerikaner durch eine Gewalttat ums Leben zu kommen ist 13-mal höher als die eines weißen Amerikaners. Laut der Datenbank der Washington Post wurden 2019 14 unbewaffnete Schwarze und 25 unbewaffnete Weiße von der Polizei erschossen. Ein Bruchteil der Gewalt, welche die afroamerikanische Bevölkerung ertragen muss ist Polizeigewalt, und die Wahrscheinlichkeit von einem Zivilisten erschossen zu werde ist 30-mal so hoch wie durch einen Polizisten.

Über 80 % der schwarzen Bevölkerung für erhöhte Polizeipräsenz

George Floyd ist mittlerweile ein Name, den man wahrscheinlich in jedem Haushalt kennt, aber wer kennt Davell Gardner, den 22 Monate alten Bube, der bei einem Bandenkrieg in Brooklyn erschossen wurde? Oder Secoriea Turner, ein achtjähriges Mädchen, das in Atlanta durch Waffengewalt ums Leben kam? Oder den elfjährigen Davon McNeal, der beim Feiern des 4. Juli in Washington DC bei einem sogenannten Drive-by-Shooting ermordet wurde. Dessen Großvater brachte die Situation auf den Punkt: „Schwarze Leben scheinen nur zu zählen, wenn ein Polizist eine schwarze Person erschießt.“ Über 80 % der schwarzen Bevölkerung wünschen sich laut Gallup Umfragen eine erhöhte Polizeipräsenz in ihren Wohngebieten, und in Minneapolis haben afroamerikanische NGOs die Stadt verklagt, weil diese die Polizeipräsenz in von mehrheitlich Schwarzen bewohnten Vierteln reduziert hat.

Ich habe ja den Verdacht, dass für viele das tatsächliche Leid der schwarzen Bevölkerung nur eine Projektionsfläche für die eigene Tugendhaftigkeit ist, genauso wie Demonstrationen gegen den Klimawandel kollektive „Virtue-Signaling“ Events geworden sind. Es ist übrigens eine äußerst arrogante Form des Rassismus, wenn mich schwarze Leben nur kümmern, wenn der Täter weiß ist.

Säße Nordhaus so oft bei Lanz wie Neubauer, würde man Intellektuelle wie Fryer und Loury in Europa besser kennen, hätte es Demonstrationen für die über 8.000 ermordeten Afroamerikaner gegeben, würde mein Urteil vielleicht anders ausfallen. Aber es bestätig sich zunehmend der Eindruck, dass Klimaaktivismus, BLM und andere kontemporäre Bewegungen weniger für die Sache an sich stehen, sondern als ideologischer Rammbock gegen die westliche, kapitalistische Zivilisation fungieren. Wir sehen das Gleiche in der europäischen Flüchtlingsdebatte: Würden uns die Menschen, die sich auf der Flucht befinden, tatsächlich am Herzen liegen, hätten sich jetzt schon Initiativen geformt, um den westlichen Militäreinsatz in Afghanistan zu verlängern, oder hätten sich für eine Intervention in Syrien starkgemacht, um allen Syrern Schutz zu gewähren und nicht nur denen die es nach Europa schaffen. Aber eine solche Intervention würde das Eingeständnis voraussetzen, dass es vielleicht besser wäre, wenn Syrien mehr wie Schweden und Afghanistan mehr wie Dänemark aussehen würde – aber in einer von Relativismus dominierten westlichen Welt wagt man es kaum noch, das Offensichtliche auszusprechen.

750 Millionen Menschen wollen Heimat verlassen

Laut einer Gallup Umfrage wollen mindestens 750 Millionen Menschen des globalen Südens ihre Heimatländer verlassen, weil man sich im Westen ein besseres Leben verspricht, gleichzeitig wagt es jedoch niemand zu fragen, weshalb das Leben im Westen denn besser sei. Die politisch Linke erklärt gerne, der moderne Wohlstand sei dem Kolonialismus geschuldet, weshalb offene Grenzen eine Art zeitversetzte Wiedergutmachung seien. Ich glaube auch, dass der Kolonialismus viel Schaden angerichtet hat, aber Länder wie Südkorea oder Singapur haben gezeigt, dass man auch mit einer Vergangenheit als Kolonie durchaus den Sprung ins 21. Jahrhundert schaffen kann – wenn man sich die bei vielen westlichen Intellektuellen so verhassten Werte zu Herzen nimmt. Die in den letzten Tagen bekannt gewordenen Tweets der neuen Sprecherin der deutschen Grünen Jugend bestätigen diesen Trend: Da wird mit Herzenslust über Weiße und Juden hergezogen, aber es regt sich kaum Widerstand in den Feuilletons. Sie sei noch jung gewesen, als sie das schrieb, hieß es zur Verteidigung aber niemanden fällt auf, dass ihre Äußerungen nur das wiedergeben, was der Jugend von der intellektuellen Klasse auf Schulen und Universitäten eingetrichtert wird.

"Kampf der Kulturen"

Samuel P. Huntington, der als Autor der „Kampf der Kulturen“ These Mitter der 90er zu globaler Bekanntheit kam, stellte fest, dass es unter westlichen Intellektuellen einen Trend gibt, sich gegen die eigene kulturelle Herkunft zu wenden und in einer Art Xenophilie alles Nicht-westliche zu überhöhen, und alles was sich unter „westlicher Zivilisation“ zusammenfassen lassen würde zu verdammen. Huntington dachte dabei vor allem an die Ideologie des Multikulturalismus, aber die „woke“ Bewegung trifft es wahrscheinlich besser. Der französische Philosoph Pascal Bruckner kommt in seinem Buch „Der Schuldkomplex: vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa“ zu einem ähnlichen Schluss: Der Westen leidet an einer Art pathologischer Selbsthass und ist auf der permanenten Suche nach Möglichkeiten, Buße für seine Vergangenheit zu leisten. Und dieser Wunsch nach historischer Abbitte führt dazu, jede Ideologie zu legitimieren, solange sie einen anti-westlichen Kern aufweist.

Doch darüber mehr in der nächsten Kolumne.

Ralph Schöllhammer ist Assistenzprofessor für Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen an der Webster Privatuniversität Wien. Auf Twitter unter @Raphfel sowie auf seinem Podcast “The Global Wire” kommentiert er regelmäßig das globale wirtschaftliche und politische Geschehen.