Anfang des Jahres durfte die Sozialdemokratie noch hoffen. Nachdem der traditionelle Maiaufmarsch der SPÖ im Jahr 2020 wegen der Coronavirus-Pandemie abgesagt wurde, schien es zunächst so, als könnte er heuer wieder stattfinden. Die Landesparteisekretärin der Wiener Sozialdemokraten, Barbara Novak, hatte bereits versichert, dass man sich am 1. Mai an die Corona-Bestimmungen wie das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes oder die Abstandsregeln halten werde. Unklar war lediglich, wie die Abschlusskundgebung auf dem Rathausplatz durchgeführt werden solle. Sogar ein beschränkter Zutritt war angedacht worden.

Das alles hat sich nun erübrigt. Nun steht es fest: Die Wiener SPÖ verzichtet auch heuer auf den traditionellen Maiaufmarsch. Die Großveranstaltung am 1. Mai mit der Abschlusskundgebung am Rathausplatz fällt neuerlich der Corona-Pandemie zum Opfer. Auch ein Jahr später “lässt uns die Situation in den Spitälern keine Alternative”, erklärte Bürgermeister Michael Ludwig am Dienstag auf Twitter. Überraschend ist dies nicht, hat sich Wien doch bereits zur Verlängerung des Lockdowns bis 2. Mai entschlossen.

Zahl der Intensivpatienten auf Höchststand

In der Bundeshauptstadt ist die Situation in den Spitälern kritisch. Vor allem die Zahlen der Intensivpatienten sind zuletzt wieder auf einen neuen Höchststand geklettert, aktuell sind es fast 250 Betroffene. Bevor sich die Situation auf den Intensivstationen nicht spürbar entspannt, wäre es “unverantwortlich, eine Großveranstaltung abzuhalten”, erläuterte Ludwig via Twitter.

Deshalb traf die Wiener SPÖ die Entscheidung, “die mir persönlich alles andere als leicht gefallen ist”. Denn der Tag der Arbeit sei “nun einmal der symbolträchtigste Kampf- und Feiertag der Sozialdemokratie und das mittlerweile seit 131 Jahren”.

Wurzeln reichen in das 19. Jahrhundert

1890 fand erstmals im Prater der Maiaufmarsch der Arbeiterschaft statt, und zwar um für den achtstündigen Arbeitstag zu kämpfen. Stefan Zweig erinnert sich in die “Die Welt von Gestern”, wie der Mai-Aufmarsch damals über die Bühne gegangen ist. Es sei “die entscheidende Wendung im Aufstieg der sozialistischen Partei in Österreich” gewesen. “Die Arbeiter hatten, um zum ersten Mal ihre Macht und Masse optisch zu zeigen, die Parole ausgegeben, den Ersten Mai als Feiertag des arbeitenden Volkes zu erklären, und beschlossen, in geschlossenem Zuge in den Prater zu ziehen, und zwar in die Hauptallee, wo sonst an diesem Tage nur die Wagen und Equipagen der Aristokratie und der reichen Bürgerschaft in der schönen, breiten Kastanienallee ihren Korso hielten.”

Entsetzen machte sich breit: “Sozialisten, das Wort hatte damals in Deutschland und Österreich etwas vom blutigen und terroristischen Beigeschmack wie vordem das Wort Jacobiner und später das Wort Bolschewisten”. Man fürchtete, Häuser würden angezündet und Läden geplündert werden. “Eine Art Panik griff um sich.”

Doch zu den befürchteten Ausschreitungen kam es nicht. Der Aufmarsch ging friedlich über die Bühne. “Die Arbeiter marschierten mit ihren Frauen und Kindern in geschlossenen Viererreihen und mit vorbildlicher Disziplin in den Prater, jeder die rote Nelke, das Parteizeichen, im Knopfloch. Sie sangen im Marschieren die Internationale, aber die Kinder fielen dann im schönen Grün der zum ersten Mal betretenen ‘Nobelallee’ in ihre sorglosen Schullieder. Es wurde niemand beschimpft, niemand geschlagen, keine Fäuste geballt”.