Die NATO versuchte auf dem Gipfel in Vilnius die Risse zu überspielen. Doch die Unstimmigkeiten waren überdeutlich. Wolodymyr Selenskyj hatte im Vorfeld eine wütende Nachricht via Twitter und Telegraph ausgesandt. Darin beklagte er sich über das Ausbleiben einer Einladung zu einem NATO-Beitritt. Kiew hatte zumindest auf einen Zeitplan gehofft.

Der New York Times zufolge hat Selenskij sogar am Dienstagabend damit gedroht, nicht an der ersten Sitzung des Ukraine-NATO-Rates teilzunehmen. Die Ukraine und ebenso einige osteuropäischen NATO-Staaten hatten vom Gipfel mehr erwartet.

„Für viele Ukrainer ist das eine sehr große Enttäuschung“

Nach Ende des Gipfels sei auch in der Ukraine die Enttäuschung groß, sagt der Kiewer Philosoph und Publizist Wolodymyr Jermolenko gegenüber dem Schweizer „Tagesanzeiger“. Er hält die Absage der NATO an einen Beitritt der Ukraine für ein Zeichen der Angst des Westens. Er kritisierte ein „profundes Missverständnis bezüglich der Frage, wie man die russische Aggression stoppen kann“. Die eine Möglichkeit wäre: „Die Ukraine tritt der NATO bei und ist damit – wieder – Teil eines nuklearen Abwehrschirms. Oder es gibt zumindest weitreichende bilaterale Sicherheitsgarantien. Offensichtlich aber ist die NATO weder zum einen noch zum anderen bereit. Für viele Ukrainer ist das eine sehr große Enttäuschung.“

Wolodymyr Jermolenko ortet Angst vor Russland bei der NATO.Yevhen Kotenko/ Ukrinform/Future Publishing via Getty Images
Jermolenko hält die Angst vor einem dritten Weltkrieg zwischen NATO und Russland für überzogen.Hennadii Minchenko/ Ukrinform/Future Publishing via Getty Images

Ukraine hofft auf schnelles Kriegsende durch NATO-Beitritt

Gemäß Jermolenko werde sich der Krieg „endlos hinziehen“, wenn die Ukraine nach Ende des Krieges der NATO beitritt.  „Dann würde nichts Putin darin hindern, weiterzumachen. Wenn wir das nicht wollen, dann sollte die Ukraine möglichst schnell Mitglied werden.“ Das würde „Putin in seine Schranken weisen, weil selbst er keinen Krieg gegen die gesamte NATO, gegen den Westen führen will und kann.“

Biden und Scholz stellten sich gegen Beitrittseinladung

Vor allem US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz stellten sich klar gegen einen sofortigen oder baldigen NATO-Beitritt der Ukraine. Frühere Entwürfe des Kommuniqués hatten bereits einen klareren Weg zum Beitritt der Ukraine vorgesehen. Aufgrund der Einwände von Biden und Scholz wurden solche Formulierungen zurückgenommen, zum Ärger der Ukrainer, berichtet „Bloomberg“. Deshalb habe Selenskyj vor Beginn die Fassung verloren. Angeblich musste man den ukrainischen Präsidenten wieder beruhigen.

Ärger über Seleneksyjs Ärger

Im Vorfeld hatte sich der ukrainische Präsident über die „absurde“” Weigerung geärgert, seinem Land einen klaren Zeitplan für die Mitgliedschaft zu geben. Sein Ausbruch wiederum verärgerte die Partner, die immerhin Milliarden von Dollar an Waffen und Hilfe in die Verteidigung der Ukraine gegen die russische Invasion gesteckt haben.

Wörtlich erklärte Selenskyj auf Twitter: „Es ist beispiellos und absurd, wenn weder für die Einladung noch für die Mitgliedschaft der Ukraine ein Zeitrahmen festgelegt wird. Gleichzeitig werden sogar für die Einladung an die Ukraine vage Formulierungen über ‚Bedingungen‘ hinzugefügt. Es scheint, als sei man weder bereit, die Ukraine in die NATO einzuladen, noch sie zum Mitglied des Bündnisses zu machen.“

Beim anschließenden Abendessen mit den anderen Staats- und Regierungschefs soll man Selenskyj mitgeteilt haben: „Sie müssen sich beruhigen und das Gesamtpaket betrachten. Bloomberg stützte sich dabei auf „Gespräche mit mehr als einem Dutzend Diplomaten und Beamten, die an dem Gipfel beteiligt waren“.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba kritisierte in einem Interview mit „Bloomberg Television“: Die Ukraine habe gehofft, auf dem Gipfel eine förmliche Einladung zum NATO-Beitritt zu erhalten, auch wenn die Mitgliedschaft und die damit verbundenen kollektiven Verteidigungsverpflichtungen erst nach Beendigung des Krieges formalisiert werden würden. Andere Diplomaten sagten, dass dies nie geschehen werde.

Der provokante Tweet, den das ukrainische Team am Dienstag aussandte, dürfte eher kontraproduktiv gewesen sein.