16 Monate sind seit der Ukraine-Invasion vergangen, ein Ende ist nicht in Sicht. Was ist Ihr Eindruck?

Durch die Unterstützung vieler westlicher Staaten wurde die Ukraine massiv aufgerüstet, damit sie eine Offensive starten und Land wieder zurückgewinnen kann.

Wie sehen Sie Österreichs Rolle in diesem Konflikt, als neutraler Staat?

Österreich steht seit Beginn des Überfalls klar und unmissverständlich auf der europäischen Seite. Wir haben Russlands Angriffskrieg auf das Schärfste verurteilt und alle Aktionen der EU mitgetragen. Auch bei anderen EU-Staaten ist die Neutralität Bestandteil der Verfassung. Überdies hat Österreich sehr viel getan, etwa eine hohe Anzahl von Vertriebenen aufgenommen und ihnen hier eine Perspektive gegeben, auch am Arbeitsmarkt.

April 2022: Bundeskanzler Karl Nehammer besucht die ukrainische Stadt Bucha, nachdem dort grausame Massaker an Zivilisten begangen worden sind.

„Die Neutralität bietet auch Chancen“

Halten Sie Österreichs Neutralität für zeitgemäß? Könnten wir etwa militärisch neutral bleiben, wenn einer unserer Nachbarstaaten angegriffen wird?

Die Neutralität genießt bei mehr als 80 Prozent der Österreicher große Zustimmung. Schließlich ist sie auch identitätsstiftend. Unsere militärische Neutralität war aber nie eine gesinnungsmäßige. Schon kurz nach dem Staatsvertrag, im Jahr 1956, haben wir uns beim ungarischen Volksaufstand klar positioniert und Hilfe angeboten. Andererseits bietet die Neutralität Chancen, um in Konflikten zu vermitteln. Wenn das Kämpfen ein Ende finden wird, könnten auch wir diese Möglichkeit anbieten.

Neue Gegebenheiten in der EU sind mit dem Neutralitätsgesetz in Übereinstimmung zu bringen.

In Österreich genießt die Neutralität hohe Wertschätzung, wie erst jüngst eine Umfrage im März zeigte.

Ex-Bundespräsident Heinz Fischer (SPÖ) meinte kürzlich: Die jetzigen Waffenlieferungen durch Österreich sind ein Grenzfall für die Neutralität.

Das haben die Verfassungsexperten zu beurteilen. In der Vergangenheit hat es das schon gegeben.

„Bei einem EU-Beitritt gelten für alle dieselben Kriterien“

Sie haben gesagt: Wir stehen auf der europäischen Seite. Doch innerhalb Europas sind die Interessen sehr unterschiedlich. Polen und die baltischen Staaten haben stärkere Ängste vor Russland, für die Ukraine bringen sie besonders viele Opfer auf. Je weiter man nach Westen kommt, umso schwächer scheint das zu sein.

Länder, die unter kommunistischer Herrschaft standen, haben sich sehr klar gegen Russland positioniert. Natürlich nimmt der Interessensgrad mit der geographischen Distanz ab. Mit Blick auf das Engagement – die Lieferung von Munition, Panzern, Sicherheitseinrichtungen, Abwehrsystemen – stehen die USA und Europa aber an einer Seite.

Polen und die baltischen Staaten Seite an Seite mit der Ukraine. Im Bild: Präsident Wolodymyr Selenskyj (M.) wird am 13. April 2022 von Polens Präsident Andrzej Duda (2.v.l.), dem lettischen Präsidenten Egils Levits (2.v.r.), dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda (l.) und dem estnischen Präsidenten Alar Karis (r.) in Kiew besucht.APA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/Foto von Handout

Von einer EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine ist zurzeit die Rede. Andere Staaten mussten darauf lange warten. Wie hoch schätzten Sie die Chancen der Ukraine auf einen baldigen Beitritt?

Das ist ein Blick in die Glaskugel. Die EU hat trotz des jetzigen Ausnahmezustandes viel unternommen, etwa bei der Korruptionsbekämpfung. Selbst Höchstrichter waren in der Ukraine nicht vor strafrechtlicher Verfolgung gefeit, was für eine Krisensituation durchaus beachtlich ist. Klar ist: Die Kriterien sind zu erfüllen, und für alle gelten dieselben Kriterien. Man muss auch die Dynamik in vielen Ländern sehen. In den sechs Balkanländern war die Euphorie anfangs sehr groß. Dann gab es einen Durchhänger. Nun hat man mit Verhandlungen wieder Fortschritte erzielt.

„Russland ist seinen Lieferverpflichtungen beim Gas immer nachgekommen“

Für die enge Kooperation mit Russland haben Österreich und Deutschland nach der Invasion teils scharfe Kritik geerntet. Der Krieg hat ja schon 2014 begonnen. Hätten da nicht die Alarmglocken läuten müssen?

Im Rückblick sieht man oft vieles anders. Es bestand jahrelang eine gewisse Abhängigkeit, auch zur Zeit des Kommunismus. Das kann man nicht mit einem Strich durchtrennen. Trotz vieler Konfliktsituationen ist Russland aber immer seinen Lieferverpflichtungen nachgekommen. Im Rückblick war unsere frühere Haltung womöglich ein Fehler. Allerdings haben sich damals sämtliche Länder in Russland die Klinke in die Hand gegeben.

Zwei Jahrzehnte lang waren heimische Politiker gerne zu Gast bei Wladimir Putin. Im Bild: Bundespräsident Heinz Fischer begrüßt Putin im Rahmen seines offiziellen Besuchs in Russland von 18. bis 21. Mai 2011.APA/HANS KLAUS TECHT

Österreich trägt nun die Russland-Sanktionen mit. Es hat geheißen, sie dürfen uns nicht mehr schaden als Russland. Nach mehr als einem Jahr scheinen sie aber nicht die erwünschte Wirkung zu erzielen.

Wir werden Europas geschlossenes Auftreten hier nicht aufgeben. Allerdings haben wir von Anfang an gesagt, dass wir die Sanktionen im Bereich Gas und Erdöl nicht mittragen. Letztlich muss man sagen: Hier verteidigt jemand sein Land, das angegriffen wurde, ohne Provokation. Die UNO hat das klar verurteilt. Die Invasion war ein Völkerrechtsbruch.

Bis heute erhält Österreich Erdgas aus Russland

„Die ukrainische Jugend orientiert sich schon lange Richtung Europa“

Das waren doch sämtliche Kriege, auch der Irak-Krieg, bei dem je nach Schätzung 100.000 Zivilisten oder mehr gestorben sind.

Saddam Husseins Regime war aber auch kein Rechtsregime. Zur Frage der Völkerrechtswidrigkeit des Irak-Kriegs gibt es unterschiedliche Ansichten. Bei Kuwait ist das wohl anders.

Ich denke überdies: Putin hat verkannt, wie stark sich die heutige Ukraine von Russland unterscheidet. Zwar pflegen Familien grenzüberschreitende Beziehungen, doch das Land ist mittlerweile kulturell ganz anders ausgerichtet. Seit den 2000er Jahren hat sich vor allem die Jugend Richtung Europa orientiert. Das hat Putin offensichtlich nicht akzeptiert und war wohl auch ein Grund für seinen Einmarsch.

Pro-europäische Demonstranten Protesttieren im Dezember 2013 auf dem Maidan-Platz in Kiew gegen Präsident Viktor Janukowitsch.APA/HELMUT FOHRINGER

Verschätzt hat sich auch der Westen. 85 Prozent der Welt beteiligen sich nicht an den Sanktionen. „Es gibt einfach viel zu viele Lücken im Sanktionsregime”, meinte kürzlich der Chef des WIFO-Instituts Gabriel Felbermayr. Deshalb falle die Wirkung „viel geringer aus, als bei den umfassenden Embargos gegen Nordkorea oder Kuba“. Auf Umwegen gelangt weiterhin westliche Technologie nach Russland. Das Land baut noch immer Raketen.

Eine Demokratie hat nur wenige Möglichkeiten gegen einen Aggressor vorzugehen, sofern sie nicht selbst zu Waffen greift. Wir haben Unterstützung nicht nur verbal signalisiert, sondern Russland mit Sanktionen auch geschadet. Dennoch hatte Österreich im Jahr 2022 ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent, Russlands Wirtschaft schrumpfte hingegen um schätzungsweise 2,1 Prozent. Also einen überproportionalen Schaden für uns sehe ich nicht. Die Inflation gibt es weltweit.

„Russlands Netzwerk bricht ein“

Aber wirtschaftlicher Schaden für Russland ist ja kein Selbstzweck. Sanktionen verfolgen ein politisches Ziel, und das war, den Krieg zu verkürzen. Das scheint nicht aufgegangen zu sein.

Die Frage ist, von welcher Erwartungshaltung man ausgeht. Können Sanktionen schon morgen deutliche Auswirkungen haben? Nein. Sie sind ein Mittel, das langfristig wirkt. Putin war aber stark irritiert von der klaren Haltung des Westens. Er konnte seine Kriegsziele nicht erreichen. Er dachte, der Krieg sei nach drei Wochen vorbei. Doch erstens war die Ukraine sehr mutig, zweitens haben wir sie unterstützt und drittens Russland mit den Sanktionen Grenzen aufgezeigt. Ich denke, die Sanktionen werden ihre Wirkung nicht verfehlen. Natürlich: Russlands Leidensfähigkeit ist groß, also wird man da einen langen Atem haben müssen.

Jene Technologien, die Russland braucht, hat es nicht. Das Land führt einen Materialkrieg wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg, sagen Militärexperten. Und Russland ist isoliert. Auch wenn andere Länder die Sanktionen nicht mittragen, und wie Indien und die Türkei einen anderen Zugang haben, ergreifen sie nicht Partei für Russland.

Putin (r.) mit Indiens Premierminister Narendra Modi (l.): Indien tritt heute eigenständiger gegenüber Russland auf.APA/AFP/SPUTNIK/Alexandr Demyanchuk

Der Westen ist ebenso isolierter als noch vor den Sanktionen. Indien, China, der Nahe Osten, Brasilien machen nicht mit, immer mehr Ländern wollen sich den BRICS-Staaten anschließen.

Das sehe ich nicht in diesem Maße. Gerade Indien war vor sechs Jahren traditionell noch ganz auf der russischen Seite. Das hat man nun nicht mehr gemerkt. Russland hat ein Netzwerk aufgebaut, und das bricht ein, etwa in Serbien, das sich stark mit Russland verbunden gefühlt hat, oder auch in der bosnischen Republika Srpska. Die Einflussnahme hat sich im Vergleich zu früher abgeschwächt.

„Ich verstehe, wenn nicht-europäische Länder eine andere Sicht haben“

Warum hat der Westen die Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland in der Türkei abgeblockt?

Das hat der Westen nicht getan, sondern sich stark auf die Seite der Ukraine gestellt. Ich verstehe, dass andere Länder eine andere Sicht haben und versuchen zu Gesprächen zu kommen. Aber im europäischen Kontext unterstützen wir ein angegriffenes Land. Wir sagen ihm nicht, wann es aufhören soll sich zu verteidigen.

Nach wie vor produziert Russland Raketen auf dem laufenden Band.APA/AFP/Russian Defence Ministry/Handout/ALEXEY KUDENKO/G20russia/AFP via Getty

Der britische Premier Boris Johnson ist am 9. April 2022 nach Kiew gereist, um Selenskyj eine Einigung auszureden.
Da zweifle ich den Wahrheitsgehalt an. Aber sicher war Boris Johnson ein sehr kantiger Politiker. Hinter unserer Unterstützung steckt keine Kriegslogik. Wir machen mit Waffenlieferungen kein großes Geschäft: Das ist eine enorm hohe Belastung für die EU.

„Ich bin vom russischen Botschafter enttäuscht“

Einige Staatsmedien aus Russland kann bei uns kaum noch konsumieren. Russlands Botschafter wirft uns einseitige und russophobe Propaganda vor.

Es ist schwierig, einen Aggressor, der mit Deep Fakes und Unwahrheiten arbeitet, an einer Diskussion teilnehmen zu lassen. Gleichzeitig verbreitet Russland Unwahrheiten um zu destabilisieren und gegnerische Länder zu spalten. Wir kennen das aus der Vergangenheit.

Die Antwort des russischen Botschafters enttäuscht mich. Er war sehr lange ein angesehener Botschafter. Ich bedaure, dass er sich jetzt Putins menschenverachtender Doktrin beugt. Als Diplomat müsste er ein anderes Format an den Tag legen.

Dmitri Ljubinski ist seit August 2015 Russlands Botschafter in Wien.APA/Hans Punz

Sie haben die 70.000 Vertriebenen aus der Ukraine erwähnt. Mittlerweile sieht man hierzulande viele ukrainische SUVs. Manche Österreicher denken: Hier wird zu viel Geld ausgegeben.

Viele ukrainischen Flüchtlinge benötigen keine Unterstützung vom Staat. Manche sind mit fast nichts geflohen, doch andere konnten ihre Flucht früher vorbereiten. Sehr viele wollen wieder zurückgehen. Allerdings kenne ich einige junge Ukrainer, die sich hervorragend eingelebt haben. Sie haben kein so reges Interesse zurückzukehren und werden wohl länger bleiben.

„Kritik aus Kiew an Österreichs Position habe ich nicht erlebt“

Warum war Ihnen die Video-Ansprache von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Parlament so wichtig? Wie haben Sie seine Rede empfunden?

Ich empfand sie als sehr wertschätzend. Er zeigte sich sehr froh über Österreichs Unterstützung. Wichtig war mir seine Rede, damit wir nach außen zeigen, dass wir moralisch auf der Seite der Ukraine stehen und ihr helfen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj während der Übertragung seiner Videoansprache am 30. März im ParlamentAPA/ROBERT JÄGER

Die Westukraine hat einmal zur Habsburgermonarchie gehört. Hier besteht eine starke historisch begründete Verbundenheit. Was erwartet sich die Ukraine von Österreich?

Der Präsident des ukrainischen Parlaments hat deutlich zur Kenntnis genommen, dass Österreich aus einer historischen Dimension heraus agiert. Kritik an Österreichs Position habe ich nicht erlebt. Ganz im Gegenteil: Die Ukrainer sind sehr dankbar für die Hilfe. Wir haben auch Rettungen und Feuerwehr vor Ort ausgestattet. Es gibt zahlreiche private Initiativen. Erst kürzlich ist der Gemeindebund in die Ukraine gereist. Vereine sind dort, wir unterstützen sie im Sicherheitsbereich, bei Logistik und Organisation.