Die Zeit höflicher Diplomatie ist vorbei. Die Sorgen in den deutschen Wirtschaftsetagen wachsen, und das rapide. Gleichzeitig sinkt das Vertrauen in die Regierung und in den Wirtschaftsstandort. Nun schlagen auch die Präsidenten der vier großen Wirtschaftsverbände Alarm. In einem öffentlichen Schreiben, das der Wirtschaftswoche vorliegt, haben sie sich an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gewandt. Deutschlands gegenwärtige Probleme seien „hausgemacht“, unterstreichen sie, und warnen: „Es braucht ein Umlenken“. Mittlerweile ginge es um „den Kern des wirtschaftlichen Fundaments Deutschlands“, und der stehe auf dem Spiel.

Die deutsche Industrie fürchtet um ihren Fortbestand.

Frust und Verunsicherung wachsen

Unterzeichnet wurde der Brief von den Verbandspräsidenten Siegfried Russwurm (Bundesverband der Deutschen Industrie), Rainer Dulger (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände), Peter Adrian (Deutsche Industrie- und Handelskammer) und Jörg Dittrich (Zentralverband des Deutschen Handwerks. Sie warnen: „Der Standort Deutschland verliert an Attraktivität. Ausbleibende Investitionen und negative Konjunkturerwartungen unterstreichen das. Der Frust und die Verunsicherung bei vielen Betrieben wachsen – und die Verlagerung von industrieller Produktion ins Ausland nimmt zu.“

Industrie-Präsident Siegfried Russwurm (Bild) ist einer der Unterzeichner des Briefs.APA/AFP/Tobias SCHWARZ

Es brauche dringen ein „Aufbruchssignal“ und überdies „langfristig verlässliche, wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen“. Zurzeit fehle bei Unternehmern das Vertrauen. Feststeht: Die verbleibenden zwei Jahre bis zur Bundestagswahl dürften „kein Verwalten des Status quo sein“.

Immer kompliziertere Regeln für Unternehmen, immer mehr Anreize für Nichtarbeit

Es war nicht das einzige Schreiben an Scholz an diesem Tag. Auch die Präsidenten von 14 Industrie- und Handelskammern in den fünf östlichen Bundesländern wandten sich an den Bundeskanzler. Ihr Brief liegt der Berliner Zeitung vor. Die Unterzeichner üben sie scharfe Kritik an der Wirtschaftspolitik – und an der grünen Energiewende: Ausgerechnet in Zeiten großer Engpässe „verabschieden wir uns in Deutschland von grundlastfähigen Technologien und schaffen es nicht, die Voraussetzungen für einen schnellen und unkomplizierten Ausbau der erneuerbaren Energien im unternehmerischen Umfeld sicherzustellen.“ Das fehle das Bekenntnis der Bundesregierung zu Technologieoffenheit im Energiebereich. Das „hemmt Innovationen und Investitionen“.

Es wachsen Zweifel an der Umsetzbarkeit der Energiewende von Grünen-Minister Robert Habeck (Grüne).PA/AFP/Ritzau Scanpix/Emil Nicolai Helms/GETTY

Darüber hinaus leide das Land unter Überbürokratisierung und einem Hängematten-Staat für Nichtstuer. „Anstatt Regulierungen herunterzuschrauben, erwarten wir in der nächsten Zeit massiv steigende regulatorische Anforderungen an Unternehmen, die immer mehr Kosten und Verdruss verursachen.“ Gleichzeitig „bläht der Staat Sozialleistungen auf und setzt Anreize für Nichtarbeit, was von Unternehmerseite finanziert werden muss und damit einen Malus für notwendige Investitionen darstellt. Offenkundig geht die Maxime verloren, dass vor dem Verteilen das Erwirtschaften kommt. Damit geraten sämtliche Überzeugungen und Mechanismen, die Deutschland zu einem starken Wirtschaftsstandort gemacht haben, in Schieflage.“

Unterzeichnet wurde das Schreiben von den Präsidenten der Industrie- und Handelskammern Chemnitz, Cottbus, Dresden, Keitel, Halle-Dessau und Leipzig.