Als der Westen mit Sanktionen auf Russlands Ukraine-Invasion reagierte, waren viele von einem schnellen wirtschaftlichen Niedergang Russlands ausgegangen, darunter auch Analysten großer Investmentbanken der New Yorker Wall Street. Sechs Monate später müssen sie ihre Einschätzung revidieren.

BIP-Einbruch nicht annähernd so stark wie erwartet

Russlands Wirtschaftsleistung blieb in den Monaten April bis Juni um vier Prozent unter dem Vorjahr. Das ist ein Einbruch, doch er ist ziemlich weit von jenen 35 Prozent entfernt, die von der größten US-Investmentbank JPMorgan vorausgesagt worden waren. Die Corona-Pandemie im Jahr 2020 hatte Russland zuvor härter erwischt. Damals blieb das Brutto-Inlands-Produkt (BIP) im zweiten Quartal 7,4 Prozent unter dem Vorjahr.

Headquarter von JPMorgan in New York CityAPA/AFP/Johannes EISELE

Wohlgemerkt: Russlands Wohlstand ist deutlich niedriger als jener Europas oder gar der USA. Das BIP lag vor Ausbruch des Krieges gerade einmal auf dem Niveau Spaniens. Unterschätzt wurde aber die Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft, sowohl mit Blick auf die Sanktionen gegen russischen Güter und das Verbot von Öleinfuhren als auch bezüglich des Ausschlusses des russischen Rubels von den internationalen Devisenmärkten. Mittlerweile rechnet JPMorgan mit einer langfristigen, aber nicht so scharfen Rezession.

Putin (r.) mit dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro: Brasilien schert bei den Sanktionen aus – und viele anderen Staaten auch.

Die meisten Länder beteiligen sich nicht an den Sanktionen

Einer von mehrere Gründen: Es war nicht “die Welt”, die Sanktionen gegen Russland verhängt hat, es waren die Vereinigten Staaten, Kanada, der Großteil Europas und Australien, auch Südkorea und Taiwan haben sich den bisherigen EU-Sanktionen angeschlossen. Japan unterstützte die Ankündigung der G7, gemeinsam Maßnahmen gegen Russland zu ergreifen, und schloss sich auch den SWIFT-Sanktionen an. Aber ganz Afrika, fast ganz Südamerika und der Großteil Asiens scheren aus.

Der Großteil der Welt (orange) hat keine Sanktionen gegen Russland verhängt.

Russland darf sich nun über stärker als erwartete Exporte russischer Rohstoffe freuen, einschließlich Rohöl. Das hat die Wirtschaft nachhaltig gestützt. Hier haben Analysten die Lage eindeutig falsch eingeschätzt.

Das westliche Öl-Embargo – ein Schuss ins Knie?

Wall-Street-Analysten hatten mit schweren Schäden gerechnet, die das westliche Öl-Embargo Russland antun würde. Russland ist der drittgrößte Ölproduzent der Welt. Russlands Wirtschaft ist entsprechend von Energieexporten abhängig. Die Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor machten 2021 rund 45 Prozent des Staatshaushalts aus.

Die USA verhängten im März ein Embargo gegen russische Energie. Die Europäische Union beschloss im Mai ein schrittweises Verbot, das vorerst 75 Prozent der Ölimporte der EU aus Russland betrifft. Im März schrieb Goldman Sachs, es sei unwahrscheinlich, dass Moskau andere Abnehmer für sein Rohöl finden werde. Ein Grund dafür sei der Ausschluss der russischen Zentralbank aus dem Swift-System für internationale Zahlungen. Das sollte sich als Irrtum erweisen.

Russland exportiert noch immer 7,4 Millionen Barrel Öl pro Tag

Den Daten von Bloomberg zufolge exportierte Russland im Juli immer noch 7,4 Millionen Barrel Öl pro Tag. Russland gelang es vor allem, seine Öl-Exporte nach Indien stark auszuweiten. Das Land bezieht zurzeit eine Million Barrel russisches Öl pro Tag – ein Anstieg um 900 Prozent gegenüber Februar.

Nach Indien exportiert Russland mehr Öl denn je. Im Bild: Indiens Premierminister Narendra Modi (r.) und Wladimir PutinAPA/AFP/Money SHARMA

Europa hat es andererseits noch nicht geschafft, sich von russischem Rohöl zu lösen. Die EU bezieht zurzeit 2,8 Millionen Barrel Rohöl aus Russland pro Tag. Das sind lediglich 30 Prozent weniger als die vier Millionen Barrel pro Tag im Februar.