Seit dem Frühjahr 2022 führt Israels Armee permanent Anti-Terror-Razzien im Westjordanland durch. Damals wurde die Region von einer tödlichen Anschlagsserie erschüttert. Von Jenin aus im nördlichen Westjordanland sollen palästinensische Terror-Gruppen unter anderem operieren.

Die Terrorwelle schwoll jüngst weiter an. In der vorigen Woche haben zwei Schützen aus dem Umfeld der Hamas das Feuer auf eine Tankstelle eröffnet. Vier Israelis wurden getötet, vier weitere verletzt. Ebenso kam es zu Gewalt zwischen Siedlern und Palästinensern. Mehrere Dutzend Israelis haben nördlich von Ramallah Fahrzeuge und Gebäude von Palästinensern in Brand gesetzt.

Yaakov Amidror hat Israels Premierminister Benjamin Netanyahu beraten. Gegenüber dem eXXpress geht er auf die Ursachen der Gewalt ein und was Israel seiner Meinung nach tun müsste.

Yaakov Amidror, Jahrgang 1948, kann auf eine jahrzehntelange Karriere beim Militär zurückblicken. Heute publiziert er zu Sicherheitsfragen und arbeitet für bekannte Think-Tanks.

„Es geht nicht um die Befreiung Palästinas, sondern um Berühmtheit durch das Töten von Juden“

Israel erlebte jüngst Terrorangriffe in der West Bank, in Nablus und Jenin. Was sind die Ursachen für diese neue Welle der Gewalt?

Es sind drei Faktoren, die ineinander greifen. Erstens hat die palästinensische Autonomiebehörde in den vergangenen zehn Jahren zunehmend an Einfluss verloren. Sie ist nicht mehr relevant. Wir erleben den Zusammenbruch jener Sicherheitssysteme, die dort zunächst von den USA aufgebaut worden sind, um den Palästinensern zu helfen. In diesem Vakuum gewinnen Terrororganisationen an Einfluss.

Zweitens – und das ist Israels Fehler: Es ist zu leicht, an Waffen zu gelangen. Laufend werden Waffen in die Westbank geschmuggelt – aus Jordanien, aus dem Libanon, teils auf Umweg über Israel. Das ist ein entscheidendes Phänomen. Es etablierte sich zunehmend. Das hätten wir verhindern sollen.

Drittens: Viele junge Palästinenser haben keine Perspektive, keine Hoffnung. Was sie antreibt ist die Möglichkeit berühmt zu werden, indem sie Juden töten. Das gibt ihnen das Gefühl, zu etwas Größerem zu gehören. Es ist ein soziales Phänomen. Dabei geht es nicht um die Befreiung Palästinas oder um politische Ziele. Berühmtwerden, indem man Juden tötet – darum geht es.

Anhänger des Islamischen Dschihad in JeninNasser Ishtayeh/SOPA Images/LightRocket via Getty Images

„Hamas benötigt heute keine komplexe Infrastruktur mehr“

Bieten die Terrororganisation den Menschen auch Geld an?

Das ist der vierte Faktor. Der Iran und Hamas liefern Geld und versuchen so ihren Einfluss in der Westbank zu vergrößern. Sie finanzieren den Terrorismus und liefern Waffen. Darüber hinaus machen sie Propaganda für die Tötung von Juden.

Die Situation ist anders als im Jahr 2002. Damals verfügte Hamas über eine komplexe Infrastruktur, über die sie unter anderem Kämpfer vorbereitet hat. Das benötigen sie nun nicht mehr.

Sind solche Terrorakte damit schwerer zu verhindern?

Auf jeden Fall. Gegen wen oder was konkret soll man den Kampf richten?

Männer verriegeln die Tür eines niedergebrannten Gebäudes in der Stadt Huwara in der Nähe von Nablus. Zwei Israelis, die in der Siedlung Har Bracha leben, wurden am 26. Februar bei einem Terroranschlag" getötet. Daraufhin fackelten Siedler aus Rache Häuser ab.APA/AFP/RONALDO SCHEMIDT

„Man muss die Siedler von den Palästinensern trennen“

Was sollte Israel gegen solche Terrorangriffe unternehmen?

Wir müssen unseren Aktionsradius erweitern, noch mehr Sicherheitskräfte einsetzen. Dann gibt es die Kerngebiete, von denen aus die meisten Terroroperationen gestartet werden. Auf die müssen wir uns konzentrieren.

Infolge des Terrors kam es zu Gewalt zwischen jüdischen Siedlern und Palästinensern. Wie will Israel solche Eskalationen künftig verhindern?

Auch hier brauchen wir mehr polizeiliche Kräfte. Man muss die Siedler von den Palästinensern trennen. Für die Angriffe der Siedler auf Palästinenser gibt es keine Entschuldigung. Ich verurteile dieses Verhalten. Es ist aber leider nicht verwunderlich, dass es dazu kommt. Das sind die Reaktionen, wenn Palästinenser unschuldige Zivilisten töten und Menschen ihren Bruder, ihre Schwester, ihre Kinder verlieren.

Hamas-Kämpfer der Ezzedine al-Qassam-Brigaden im südlichen Gazastreifen: Die Terrororganisation streckt ihrer Fühler zunehmend in das Westjordanland aus.APA/AFP/SAGTE KHATIB

„Das Regime von Mahmud Abbas kann den Menschen kaum helfen“

Wie sehen Sie die Zukunft der Palästinensischen Autonomiebehörde?

Das Regime unter Abu Mazen (Mahmud Abbas) steckt tief in der Korruption. Vieles funktioniert nicht mehr. Es kann den Menschen kaum helfen. Es hat verabsäumt, eine funktionierende Infrastruktur aufzubauen. Auf die Probleme der Menschen hat die Palästinensische Autonomiebehörde keine Antwort, und für die Zukunft keine Vision. Die Palästinenser werden den Preis dafür bezahlen.

Terrororganisation wie Hisbollah, Hamas, Palästinensischer Dschihad erhalten finanzielle Unterstützung vom Iran. Ist der Iran für Israel die Hauptbedrohung?

Nicht in der Westbank. Der Iran liefert Geld. Doch entscheidend sind die vielen Funktionsmängel bei der Palästinensischen Autonomiebehörde – und die Fähigkeit der Hamas, von Beirut und von Gaza aus den Terror in der Westbank zu fördern. Der Iran ist hier nur die Macht im Hintergrund.

Siedler im haben im Februar im Dorf Hawara randaliert und Häuser und Autos in Brand gesetzt, wenige Stunden nachdem bei einem Terroranschlag zwei Siedler in Hawara getötet worden waren.Amir Levy/Getty Images

„In jeder Nacht verhaften wir Akteure der Hamas“

Was unternimmt Israel gegen den Einfluss der Hamas in der Westbank?

Permanent, ohne Unterbrechung, gehen wir dagegen vor. In jeder Nacht, ohne Pause, verhaften wir Menschen von der Hamas, die den Terror in der Westbank unterstützen. Sie wollen dort ihre Fähigkeiten erweitern und eine eigene Infrastruktur aufbauen. Teils finden solche Operationen von uns sogar untertags statt.

Was will Israel gegen die Hamas im Gazastreifen tun? Es ist von dort bereits abgezogen.

Dabei wird es auch bleiben. Was ist die Alternative zur jetzigen Situation? Zurzeit sehen wir keine. Hamas trägt die Verantwortung für den Gazastreifen – nicht Al-Kaida oder der Islamische Staat. Was die Hamas verstanden hat: Auf jeden Angriff werden wir massiv zurückschlagen. Es hat schwerwiegende Konsequenzen, wenn Hamas vom Gazastreifen aus angreift. Deshalb herrscht nun über eine lange Zeit Ruhe. Eines dürfen Sie überdies nicht vergessen: Die Palästinenser haben Hamas gewählt.

Yaakov Amidror, Jahrgang 1948, ist ein ehemaliger Generalmajor und nationaler Sicherheitsberater Israels. Überdies war er Leiter der Forschungsabteilung des israelischen Militärgeheimdienstes. Heute ist er Senior Fellow am Jerusalem Institute for Strategic Studies, einer Denkfabrik für Sicherheitsfragen, und Forschungsbeauftragter am Institute for Middle East Research in Washington.

Mit 19 Jahren trat er in die Israelische Armee ein, wo er später Karriere machte. Er diente unter anderem als Sekretär des Verteidigungsministers. Zuletzt war er Leiter der analytischen Abteilung des Militärgeheimdienstes. 2011 wurde er von Benjamin Netanjahu als Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats eingesetzt.