Larry Summers und andere Ökonomen warnen vor einer verstärkten Inflation, Nobelpreisträger Joseph Stiglitz wiederum sieht die Gefahr überhaupt nicht. Lässt sich eine kommende Inflation zurzeit prognostizieren?

Das zu prognostizieren, ist schwierig. Die Frage ist: Warum regen wir uns zurzeit über die Inflation so auf? In den vergangenen Monaten erlebten wir, wie der zuvor vorherrschende Narrativ von der Deflation durch den Narrativ von der Inflation verdrängt worden ist. Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen. Erstens hat die Entwicklung des Impfstoffs die Aussicht auf die Konjunkturerholung fassbarer gemacht. Zweitens sind die Rohstoffpreise in der ersten Phase der Pandemie stark gefallen, nun sind sie wieder gestiegen, aber mit ordentlichem Schwung. Die Aussicht auf Konjunkturerholung lässt darüber hinaus einige weitere Preise ansteigen, hinzu kommen noch administrierte Preise wie Mehrwertsteuern, CO2-Abgaben in Deutschland. Und nun leitet die Biden-Administration in den USA ein gewaltiges 1,9 Billionen US-Dollar schweres Konjunkturpaket ein. Dank dieser Umstände wurde die Inflationserzählung „viral“, wie Robert J. Shiller („Narrative Economics“) sagen würde. Stiglitz hält das für vorübergehend, Summers meint, es wird endemisch.

„Steigende Löhne führen zu einer Lohn-Preis-Spirale“

Worauf wird es nun ankommen, ob eine verstärkte Inflation tatsächlich eintritt?

Zu beachten ist jetzt, ob dieser Trend dynamisiert wird. Eine Dynamisierung findet in der Regel durch Lohnerhöhungen statt. Wenn sich die Konjunkturerhöhung und die wachsenden Rohstoffpreise in steigende Löhne übersetzen, erleben wir eine Preis-Lohn-Spirale, wie schon in der Vergangenheit. Dann lautet die entscheidende Frage: Wird sich diese Spirale mit voller Dynamik entfalten? Meine Antwort ist ja. Wenn das eintreten sollte, würde sich die Spirale voll entfalten, weil wir bereits einen gewaltigen Geldüberhang in der Wirtschaft haben.

Könnten Sie das erläutern?

Der Geldüberhang ist der Abstand zwischen der geschöpften Geldmenge und dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Euro-Raum stieg die Geldmenge im vergangenen Jahr um zwölf Prozent, das nominale BIP sank um etwas mehr als fünf Prozent. In den USA stieg die Geldmenge übrigens noch mehr. Wir haben also einen deutlich Geldüberhang – mehr Geld im Vergleich zu den Dienstleistungen. Mit diesem zusätzlichen Geld könnte man die Preise erhöhen. Das wäre eine weitere Stufe in der Inflationserzählung.

„Würde die Federal Reserve signalisieren, dass sie die Anleihen wieder verkauft, würden der Bond-Markt und damit auch der Aktienmarkt einbrechen.“Olivier Douliery / afp

Könnte die Zentralbank diesen Geldüberhang zurückstutzen, um den Spielraum für Preiserhöhungen zu begrenzen?

Sie müsste das geschaffene Geld wieder einfangen. Dazu müsste die Zentralbank einen Teil der Anleihen, die sie gekauft hat, wieder verkaufen. Sie müsste also den Rückwärtsgang einschalten. Darüber hinaus müsste sie die Leitzinsen erhöhen, damit die Banken engere Finanzierungskonditionen haben und ihre Kreditzinsen ebenfalls erhöhen. Nun, sollten die Zentralbanken tatsächlich damit beginnen, dann würde uns meiner Meinung nach ein richtiger Bond-Crash ins Haus stehen. Bisher geht der Bond-Markt in den USA nur in die Knie. Würde die Federal Reserve aber auch nur signalisieren, dass sie die Anleihen, die sie zur Geldproduktion gekauft hat, wieder verkauft und das ausgestoßene Geld einsammelt, dann würden der Bond-Markt und damit auch der Aktienmarkt einbrechen. Viele Menschen, die hohe Schulden haben oder sich darauf verlassen haben, dass ihre realen Vermögensanlagen preisstabil bleiben, hätten große Probleme. Wir würden in eine neue Finanzkrise schlittern.

Das klingt nicht danach, als könnte die Fed offensiv und ohne gravierende Konsequenzen die Inflation bekämpfen. Nun wurde die Geldmenge schon bei der Finanzkrise 2008 gewaltig aufgebläht. 

Grundsätzlich erleben wir einen Anstieg der potenziellen Inflation. Die notwendige Bedingung für höhere tatsächliche Inflation ist aufgrund von verbesserter Konjunktur, Anstieg der Rohstoffpreise und großem Geldüberhang erfüllt. Doch eine hinreichende Bedingung haben wir erst bei steigenden Löhnen, dann hätten wir eine trabende Inflation, aber nicht unbedingt eine galoppierende Inflation wie in den 1970er Jahren.

In der Finanzkrise blieb das neue Geld im Bankensektor

Nun wurde die Geldmenge im Zug der Finanzkrise 2007/08 gewaltig aufgebläht. Die von einigen damals prognostizierte Inflation blieb aber aus, zumindest in Bezug auf die Konsumentenpreise.

In der Finanzkrise wurde eine gewaltige Geldbasis (M0) geschaffen, aber der sogenannte Geldmultiplikator ging hinunter. Die Geldbasis blieb zu einem erheblichen Teil im Bankensektor hängen, weil die Banken dringend ihre Bilanzen verbessern mussten und dafür mehr Zentralbankgeld nachfragten. Die Banken waren nämlich geschwächt aus der Krise hervorgegangen und suchten krankhaft nach sicheren Assets, und das war für sie das Zentralbankgeld. Einfaches Beispiel: Die Fed hat den Banken fragwürdige Immobilienkredite des Troubled Asset Relief Program (TARP) abgenommen und dafür sicheres Zentralbankgeld gegeben. Dadurch stieg die Geldbasis M0, aber für die umlaufende Geldmenge war das weitgehend neutral. Was aber den Bankensektor als Giralgeld verließ, rutschte in die Finanzmärkte ab. Deshalb hatten wir trotz einer mittelmäßigen Wirtschaftserholung seit Anfang 2009 einen sehr guten Aktien- und Immobilienmarkt, obwohl wir gerade einen Immobilien-Crash erlebt hatten. Ein Teil des neu geschaffenen Geldes – übrigens deutlich weniger als heute – rutschte in den Markt für Vermögenswerte.

Spielten das weltweite Wirtschaftswachstum und Asien auch eine Rolle?

Ja. Charles Goodhart und Manoj Pradhan haben in ihrem Buch „The Great Demographic Reversal“ darauf hingewiesen, dass durch die fortgesetzte Globalisierung das Arbeitsangebot im vergangenen Jahrzehnt auf globaler Ebene gestiegen ist. China und Indien haben mehr Güter und Dienstleistungen in den globalen Markt gebracht. Dadurch gab es ein reichhaltiges Angebot, das die Güter- und Dienstleistungsinflation niedrig gehalten hat. Die Überschussmenge rutschte nur in die Vermögenswerte.

„Nun schlägt die Alterung der Bevölkerung zu, bei uns schon länger, aber darüber hinaus vor allem in China.“Flossbach von Storch

Nun sind die Bedingungen aber deutlich andere, als zur Zeit der Finanzkrise.

Einiges hat sich geändert. Erstens bleibt das Zentralbankgeld heute nicht im Bankensektor, sondern wird als Giralgeld weitergereicht. Deshalb steigen die Geldmengenaggregate dieses Mal viel stärker als nach der Finanzkrise. Zweitens zeigen Goodhart und Pradhan auf, dass sich die positiven Effekte des Anstiegs der globalen Erwerbsbevölkerung und der Globalisierung der Unternehmen ins Negative umkehren: Der Handelskonflikt zwischen den USA und China intensiviert sich, der Welthandel wächst nicht mehr so dynamisch, ein neuer Protektionismus bildet sich heraus und wir erleben eine Tendenz zur Segmentierung des Weltmarkts in verschiedene Freihandelszonen. Der Integrationsprozess in den Weltmarkt ist zum Erliegen gekommen, und die Pandemie dürfte das noch verstärkt haben. Man will sich nicht mehr darauf verlassen, dass medizinische Produkte nur in China produziert werden, Lieferketten werden zurückgefahren.

Zudem schlägt „The Demographic Reversal“, die Alterung der Bevölkerung zu, bei uns schon länger, aber darüber hinaus vor allem in China. Die Abhängigkeitsquote ist in China jahrelang gesunken: Es gab immer weniger Kinder aufgrund der Ein-Kind-Politik in Relation zur wachsenden Erwerbsbevölkerung, wohl auch wegen der Integration der Frauen. Dieser Prozess dreht sich jetzt um: Eine schrittweise Transformation der globalen Erwerbsbevölkerung (OECD und China) in die Rentnerbevölkerung wird spürbar, während gleichzeitig die Erwerbsbevölkerung aufgrund von Chinas Ein-Kind-Politik und geringer Geburtenraten im Westen nicht mehr wächst. Nun verweisen einige auf die Geburtenexplosion in Afrika, wo – wie bei uns zur Zeit der Industriellen Revolution – die Kindersterblichkeit sinkt, die Gebärfreudigkeit aber bleibt. Nur konnte sich Afrika bisher leider nicht gesellschaftlich und wirtschaftlich so organisieren, dass die Produktivität steigt. Immer mehr Menschen teilen sich dort die Produktion auf („Malthus-Falle“), so dass das Einkommen pro Kopf nicht wächst oder sogar sinkt. Das hat viel mit der Organisation afrikanischer Gesellschaftsformen zu tun, die den Sprung in eine industrielle Gesellschaft bisher nicht wirklich geschafft haben.

In Summe wären das alles die Gründe, weshalb es dieses Mal mit der Inflation ernst werden könnte, und wir nicht wieder falschen Alarm haben, wie schon mehrmals in den vergangenen Jahren.

Thomas Mayer (67), Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institutes, ist ehemaliger Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Zuvor arbeitete er bei Goldman Sachs, Salomon Brothers, dem Internationaler Währungsfonds und beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel.

Schlittern wir in eine steigende Inflation?