Putin denkt nicht daran, Polen oder die baltischen Staaten anzugreifen, erklärt er im Interview mit Tucker Carlson im Kreml. Das widerspreche dem Hausverstand, denn keiner wolle einen Weltkrieg. Überdies klagt der russische Präsident über ein für ihn anscheinend zentrales Problem: Er wisse nicht, mit wem er im Westen reden solle, wer am Ende wirklich die Entscheidungen trifft. Die europäischen Staaten seien schlicht Vasallen der USA. Doch auch die gewählten US-Präsidenten hätten nicht immer das letzte Wort, sondern würden von Beratern oder ihrem Team im Hintergrund zurückgepfiffen.

Präsident Wladimir Putin gibt US-Talkmaster Tucker Carlson zum Interview die Hand.APA/AFP/POOL/Gavriil GRIGOROV

Überdies habe Moskau sein Ziel in diesem Krieg noch immer nicht erreicht, wie der Kreml-Chef unterstreicht. Dieses sei die „Entnazifizierung“ der Ukraine. Offenbar denkt Putin dabei an ukrainischen Nationalismus und die Verehrung des rechtsextremen ukrainischen Politikers Stepan Bandera (1909 bis 1959). Solche Elemente müssten in der Ukraine verschwinden. Und: Die Verhandlungen in Istanbul im Jahr 2022 wurden offenbar auf Druck des Westens abgebrochen, obwohl man schon weit gekommen sei, sagt Wladimir Putin.

Das sind einige der kontroversen Aussagen des russischen Präsidenten in einem mehr als zweistündigen Interview. Auch um die wechselvollen Beziehungen zum Westen kreist das Gespräch und um Russlands spezielle Beziehung zur Ukraine. Mit einem Ende der westlichen Waffenlieferungen würde auch der Krieg binnen weniger Wochen aufhören, behauptet Putin.

Der eXXpress bringt im Folgenden eine ausführliche Zusammenfassung aller Schlüsselpassagen (manchmal mit kurzen Anmerkungen) – nicht um für den russischen Präsidenten zu werben, sondern damit sich jeder selbst eine eigene Meinung bilden kann. Einzelne politisch weniger brisante Passagen haben wir weggelassen.

Das Interview im Kreml. In der Vergangenheit traf Putin hier westliche Politiker.APA/AFP/POOL/Gavriil GRIGOROV

Putin doziert fast 25 Minuten lang über Geschichte – Österreich kommt auch vor

Das Gespräch beginnt zunächst furchtbar. Er wolle sich nur „30 Sekunden oder eine Minute Zeit nehmen“, erklärt Putin, um „einen kurzen Hinweis auf die Geschichte zu geben“. Daraus werden dann fast 25 Minuten – zum Verdruss Carlsons und des Zuschauers. Wieder einmal betätigt sich der russische Staatspräsident als Geschichtslehrer und erläutert, warum seiner Meinung nach die Ukraine zu Russland gehört. Ähnliches hatte er schon zu Beginn der Ukraine-Invasion behauptet, was zahlreiche Historiker als manipulative Propaganda-Sicht zurückgewiesen haben.

Auch die Habsburgermonarchie kommt zur Sprache. Vor dem Ersten Weltkrieg hätte der österreichische Generalstab die Ideen der Ukrainisierung aktiv gefördert. „Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wollten sie den potenziellen Feind schwächen und sich günstige Bedingungen im Grenzgebiet sichern“, behauptet der Kreml-Chef. Die Idee einer eigenen Ukraine sei eigentlich in Polen entstanden, nun sei sie vom österreichischen Generalstab propagiert worden.

Auch hier würden Historiker Einwände erheben. Ein ukrainisches Selbstverständnis ist schon viele Jahrhunderte früher entstanden, sagen die meisten.

Zunächst befürchtete Tucker Carlson (Bild), kein Interview zu führen, sondern einen langen historischen Monolog. Doch dann konnte er doch noch alle Fragen stellen.

Putin will an einer Stelle sogar beweisen, dass er nichts erfindet, und legt Carlson ein historisches Dokument vor. „Ich denke nicht, dass Sie etwas erfinden“, entgegnet Carlson. „Ich bin mir nur nicht sicher, was das mit den Ereignissen von vor zwei Jahren zu tun haben soll.“

NATO, Serbien, Separatisten: Deshalb verschlechterten sich die Beziehungen zum Westen in den 1990er Jahren

Bei der Gegenwart angekommen, wird es spannender. Die russische Führung habe freiwillig die Sowjetunion zerfallen lassen. Dass sie die Ukraine sich selbst überließ, habe daran gelegen, dass sie fest an gute Beziehungen zu diesem Nachbarstaat glaubte – aufgrund der gemeinsamen Sprache, der Familienverbindungen, der gemeinsamen Geschichte, Kultur, des gemeinsamen Glaubens und der zutiefst verbundenen Volkswirtschaften. „All das macht unsere guten Beziehungen unvermeidlich“, sagt Putin. Dem hätten vor dem 24. Februar 2022 wohl deutlich mehr Ukrainer zugestimmt.

Putin spart nicht mit Kritik am Westen, lobt aber einzelne Persönlichkeiten auch.

Stark verschlechtert hätte sich Russlands Verhältnis zum Westen in den 1990er Jahren, zunächst durch die NATO-Osterweiterung, dann durch die Bombardierung Belgrads. Doch Putin sagt, dass er das alles Ende der 1990er Jahre, zu Beginn seiner Präsidentschaft, hinter sich lassen wollte. Der damalige US-Präsident Bill Clinton habe sich zunächst auch offen für einen NATO-Beitritt Russlands gezeigt, dann aber nach Gesprächen mit seinen Beratern abgewunken.

Weitere Vorwürfe gegen den Westen betreffen die Unterstützung tschetschenischer „Terroristen“ und das Raketenschutzschild in Europa, das vor dem Iran schützen soll, was Putin dem Westen aber nicht glaubt. Russland habe seither auf „Hyperschall-Angriffssysteme“ gesetzt. Putin: „Hier sind wir allen anderen voraus. Wie entwickeln sie jeden Tag weiter.“

Der NATO-Beitritt der Ukraine und das Problem, dass Putin nicht weiß, mit wem er im Westen reden soll

Ein weiteres Schlüsseljahr ist für den Kreml-Chef 2008, als die USA beim NATO-Gipfel in Bukarest erklärten, „die Tore für die Ukraine und Georgien“ zu öffnen. Deutschland, Frankreich und andere europäische Länder seien dagegen gewesen, hätten aber womöglich dann doch eingelenkt. Putin schüttelt den Kopf und lacht – in sehr verächtlichem Ton. Er lässt die Zuschauer seine Geringschätzung der westlichen Politik an dieser Stelle spüren. „Wie sollten wir zustimmen? Wo gibt es die Garantien?“

Ein weiteres Schlüsseljahr ist für Putin 2008, als sich die USA erstmals offen für einen NATO-Beitritt der Ukraine gezeigt haben.

Später sei das Thema nicht mehr auf der Tagesordnung gestanden. Aber wie verlässlich seien Zusagen der Europäer, dass es keinen NATO-Beitritt der Ukraine mehr geben werde, wenn die USA eines Tages „wieder Druck auf Euch ausüben“, fragt der Kreml-Chef.

Dann formuliert Putin eine Frage, auf die das Gespräch später nochmals zurückkommt: „Mit wem soll man da noch reden? Ich verstehe das nicht. Wir sind bereit zu reden. Aber mit wem?“ Gemeint sind die Ansprechpartner im Westen. Putin zufolge werden viele Entscheidungen in den USA gefällt, aber nicht vom US-Präsidenten. (Damit öffnet er natürlich wieder Tore für neue Verschwörungstheorien, die er aber selbst nicht formuliert.)

Putins Sicht auf den Krieg: Im Donbass soll alles begonnen haben und im Maidan

Das nächste Datum ist der sogenannte „Staatsstreich im Maidan im Jahr 2014“, für den der russische Präsident die USA verantwortlich macht. Er behauptet überdies, dass alles im Donbass begonnen habe. „Sie haben 2014 einen Krieg im Donbass begonnen und dabei Flugzeuge und Artillerie gegen Zivilisten eingesetzt. Damit fing alles an. Es gibt ein Video von Flugzeugen, die Donezk von oben angreifen. Sie haben eine groß angelegte Militäroperation gestartet, dann eine weitere.“

Über diese Periode streiten Historiker bis heute.

Aus Putins Sicht hat Russland nur reagiert. Der Druck sei vom Westen ausgegangen. Im Westen sieht man das genau umgekehrt.

Putin stellt die Position Russlands – wenig verwunderlich – als rein defensiv dar. Russland habe seine Besorgnis über das Geschehen damals zum Ausdruck bringen müssen, sagt er. „Von unserer Seite aus wäre das eine sträfliche Nachlässigkeit gewesen. Genau das wäre es gewesen.“ Und: „Es ist nur so, dass die politische Führung der USA uns an eine Grenze gedrängt hat“. Die habe Russland aber nicht überschreiten dürfen, „weil dies Russland ruinieren hätte können.“ Fakt sei: „Die CIA haben ihren Job gemacht, um den Putsch zu vollenden.“

Ein wichtiger Auslöser für die jüngsten Ereignisse sei auch der Umstand gewesen, dass die derzeitige ukrainische Führung nicht die Minsker Vereinbarungen habe umsetzen wollen. Putin behauptet, dass die Ukraine und der Westen den Krieg im Jahr 2014 begonnen hätten, und dann ebenso im Jahr 2022. (Zweifelsohne sieht man das im Westen anders.)

Russland hat seine Ziele erst mit der „Entnazifizierung“ erreicht, sagt Putin – also noch nicht

Es folgt eine wichtige Frage von Tucker Carlson: Hat Russland nun bereits alle seine Ziele im Ukraine-Krieg erreicht? „Nein, wir haben unsere Ziele noch nicht erreicht, denn eines dieser Ziele ist die Entnazifizierung. Das bedeutet das Verbot aller Arten von Neonazi-Bewegungen.“ Dieses Problem sei auch während des Verhandlungsprozesses in Istanbul kurz nach Beginn der Invasion erörtert worden.

Für das Scheitern der Verhandlungen in Istanbul macht Putin den Westen verantwortlich.

Während der Gespräche in Istanbul im Jahr 2022 hätten Frankreich und Deutschland auf einen Rückzug der russischen Truppen gedrängt. Sie hätten gesagt: „Wie sollen die Ukrainer einen Vertrag unterschreiben, wenn man ihnen eine Pistole an den Kopf hält? Die Truppen sollten aus Kiew abgezogen werden.“ Deshalb hätte Russland auch die Truppen aus Kiew abgezogen, behauptet Putin. Das ist bekanntlich die russische Version.

Putin: „Sobald wir unsere Truppen aus Kiew zurückzogen, warfen unsere ukrainischen Unterhändler sofort alle in Istanbul getroffenen Vereinbarungen über Bord und bereiteten sich mit Hilfe der Vereinigten Staaten und ihrer Satelliten in Europa auf eine langjährige bewaffnete Konfrontation vor. So hat sich die Situation entwickelt. Und so sieht sie auch jetzt aus.“

Anmerkung: Dass die Gespräche damals von der ukrainischen Seite abgebrochen wurden, womöglich auf Drängen des Westens, haben schon andere behauptet – der eXXpress berichtete. Über den Verlauf der Gespräche gibt es unterschiedliche Aussagen.

Putin denkt bei Nazis offenbar an Bandera-Verehrer und ukrainische Nationalisten

Tucker Carlson möchte wissen, was Entnazifizierung bedeutet. Wladimir Putin denkt offenbar an ukrainisch-nationalistische Bandera-Verehrer: „Nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, begann sie, wie einige westliche Analysten sagen, nach ihrer Identität zu suchen. Und ihr fiel nichts Besseres ein, als diese Identität auf falschen Helden aufzubauen, die mit Hitler kollaborierten.“

Putin erwähnt die Verbrechen an Juden, Polen und Russen durch Banderas Anhänger. „Es waren diese Leute, die zu Nationalhelden gemacht wurden.“ Es sei „notwendig, diese Praxis zu beenden und die Verbreitung dieses Konzepts zu verhindern.“

Putin denkt sehr geschichtlich, wie Tucker Carlson während des TV-Interviews feststellt, in dem er nur wenige, aber durchaus wichtige Fragen stellt.

Der Kreml-Chef hält fest: „Ich sage, dass die Ukrainer ein Teil des einen russischen Volkes sind. Sie sagen, nein, wir sind ein separates Volk. Na gut, schön. Wenn sie sich selbst als ein separates Volk betrachten, haben sie das Recht dazu. Aber nicht auf der Grundlage des Nazismus, der Nazi-Ideologie.“

Dann wird er sehr deutlich: „Wir müssen die Leute loswerden, die dieses Konzept aufrechterhalten und diese Praxis unterstützen und versuchen, sie zu bewahren. Das ist es, was Entnazifizierung bedeutet.“ Ob das auch die Beseitigung der jetzigen Regierung in Kiew samt Präsident bedeutet, verrät Russlands Präsident nicht.

Nochmals kommt er auf den Verhandlungsprozess in Istanbul zurück. Dort habe man sich auf diesen Punkt schon geeinigt: „Der Neonazismus wird in der Ukraine nicht kultiviert, und das schließt ein, dass er auf legislativer Ebene verboten wird.“ Diesmal erwähnt auch Putin, dass möglicherweise ein Besuch des damaligen britischen Premiers Boris Johnson in Kiew zu einem Abbruch der Verhandlungen geführt habe.

Wenn die USA keine Waffen mehr liefern ist der Krieg aus Putins Sicht vorbei

Mit Präsident Biden spreche er seit dem Februar 2022 nicht, hält Putin fest, das sei auch nicht notwendig. Bestimmte Kontakte würden aufrechterhalten. „Ich werde Ihnen sagen, was wir in dieser Angelegenheit der US-Führung übermitteln: Wenn sie die Kämpfe wirklich beenden wollen, müssen sie die Waffenlieferungen einstellen. In ein paar Wochen wird der Krieg vorbei sein. Das war’s.“

Genau davor warnen andere Personen im Westen. Sie fürchten einen Untergang der Ukraine mit verheerenden Folgen für Europa.

Nein, er spreche zurzeit nicht mit Biden, sagt Putin, aber das habe auch keinen Sinn.

Angriffe auf Polen, Lettland sind angeblich komplett abwegig und nicht in Russlands Interesse

Ob Russland auch andere Staaten angreifen würde, fragt Carlson. „Nur in einem Fall: Wenn Polen Russland angreift.“ Doch Putin unterstreicht: „Wir haben kein Interesse an Polen, Lettland oder sonst wem. Warum sollten wir das tun? Wir haben einfach kein Interesse.“ Überdies widerspreche es „dem gesunden Menschenverstand, in einen globalen Krieg verwickelt zu werden. Und ein globaler Krieg wird die gesamte Menschheit an den Rand der Zerstörung bringen.“

Dann will Putin anscheinend die USA zu Verhandlungen bewegen: „Wäre es nicht besser, mit Russland zu verhandeln, ein Abkommen zu schließen, wenn man die Situation, die sich heute entwickelt, bereits kennt und weiß, dass Russland bis zum Ende für seine Interessen kämpfen wird?“

Tucker Carlson fragt Putin auch, ob er vorhat, weitere europäische Staaten anzugreifen.

Abschätzig äußert sich Putin über die Regierung in Berlin. „Die heutige deutsche Führung lässt sich eher von den Interessen des kollektiven Westens als von ihren nationalen Interessen leiten.“ Und dann in fast aggressivem Tonfall: „Das sind höchst inkompetente Leute.“

Die westlichen Eliten sind schuld – wer auch immer sie sind

Interessanterweise lobt Putin Ex-US-Präsident George W. Bush „trotz seiner Fehler“: „Er war nicht schlechter als jeder andere amerikanische, russische oder europäische Politiker. Ich versichere Ihnen, er verstand, was er tat, genauso gut wie andere.“ Auch zu Trump habe Putin eine gute Beziehung gehabt. „Es geht nicht um die Persönlichkeit des Führers, es geht um die Denkweise der Elite.“

Doch wer ist die Elite, und wer ist Schuld an dem, was Wladimir Putin als permanenten Druck auf Russland bezeichnet? Schuld seien möglicherweise „übermäßige Produktionskapazitäten“ aus der Zeit des Kalten Krieges. „Während der Konfrontation mit der Sowjetunion wurden viele Zentren und Spezialisten für die Sowjetunion geschaffen, die nichts anderes tun konnten. Sie haben die politische Führung davon überzeugt, dass es notwendig ist, Russland weiter zu zertrümmern“. Das sei ein Fehler.