Mit ein paar Knallhart-Aussagen und scharfer Kritik am Westen lässt Bundesheer-Experte Oberst Markus Reiser in seinem jüngsten Interview aufhorchen. Auf die Frage, ob der Westen auf den beginnenden Stellungkrieg in der Ukraine vorbereitet ist, erklärt der Militärhistoriker: „Der Westen ist darauf nicht vorbereitet, weil der Westen sich seit 20 Monaten die Situation schönredet“.

ATACMS-Raketen sind ein taktisches Raketensystem der US-Armee, das zum Beispiel auch Südkorea (Bild) einsetzt. Die Ukraine bräuchte von all dem noch mehr.Südkoreanisches Verteidigungsministerium via Getty Images

Wunschdenken des Westens: Ukraine werde nur mit Moral siegen

Die europäischen Politiker hätten geglaubt, die Ukraine werden allein wegen ihrer Moral den „russischen Bären besiegen“. Doch das funktioniere so nicht, wie Reisner gegenüber der Deutschen Welle (DW) unterstreicht: „Das ist gegen jede militärische Logik.“ Gemäß dem Militärexperten gibt es jetzt nur noch zwei Möglichkeiten: „Die eine ist, All-in zu gehen. Da müssten aber jede Woche vier bis fünf beladene Militärzüge in die Ukraine fahren. Das andere ist, selbstkritisch einzugestehen, dass es nicht möglich ist.“

An der Front herrscht seit Monaten de facto eine Patt-Stellung. Auch die Offensive konnte das nicht aufbrechen.

Vor Variante zwei schreckt der Westen aber offenbar zurück: „Dann muss man das aber den Ukrainern sagen. Man muss dann möglicherweise mit Verhandlungen beginnen, aber mit dem Eingeständnis, dass die Ukraine als Staat so nicht mehr existieren wird, weil Russland sie zerstören wird.

2024 wird sich entscheiden, wie es weitergeht

Welche der beiden Wege eingeschlagen wird, werde sich wohl im kommenden Jahr entscheiden. Man steuere auf einen „Kulminationspunkt“ zu, bei dem „die Situation auf der Kippe steht und sich entscheidet – in die eine oder andere Richtung.“ Reisner ist skeptisch, weil sich die Aufmerksamkeit zunehmend anderen Krisen zuwendet. „Wenn es die Ukraine nicht schafft, weiter im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit zu bleiben und vor allem für die europäische Seite klarmacht, dass der Krieg um Europa möglicherweise in der Ukraine entschieden wird, dann wird es für die Ukraine schwierig werden.“

Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyi, machte es kürzlich deutlich: Für eine erfolgreiche Offensive brauchen wir mehr Waffen und Munition.APA/AFP PHOTO/UKRANIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE

Grundsätzlich stimmte Markus Reisner dem ukrainischen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj überein. Dieser hatte im britischen Economist von einer Sackgasse gesprochen, weil nun ein Stellungskampf wie im Ersten Weltkrieg drohe. Für eine erfolgreiche Offensive gegen Russland erhält Kiew de facto zu wenig: „Saluschnyj sagt, dass die Ukraine seit 20 Monaten immer nur das bekommt, was es ihr möglich macht, eine asymmetrische Situation wieder auszugleichen. Aber zu wenig, um die Russen so in die Enge zu treiben, dass sie gezwungen sind, in Verhandlungen zu treten.“ Saluschnyj richte den westlichen Verbündeten aus: „Wenn ihr wollt, dass wir gewinnen, dann muss es hier einen Unterschied geben zu früher.“

Russland hat Ukraine in Stellungskrieg gezwungen

Ein Problem: „Die Ukraine war immer dann gut, wenn sie mobil war. Die Russen haben es immer wieder geschafft, die Ukraine in eine stationäre Kampfführung zu zwingen.“ Die Offensive, die am 4. Juni begonnen hat, hätte dieses Dilemma durchbrechen sollen – „aber sie hat nicht ihre gesetzten Ziele erreichet. Damit haben die Russen die Ukrainer wieder in den Stellungskrieg hineingezwungen.“

Die Lieferung von F-16-Kampffliegern an die Ukraine sorgte für lange Debatten.Getty

Nun gebe es Anzeichen für die Planung einer neuen Offensive im Frühjahr. Doch dafür bräuchten die Ukrainer „150 Kampfpanzer, 300 Schützenpanzer, zumindest 200 bis 300 Artilleriesysteme“, und „die müssen jetzt geliefert werden“.

Ukraine müsste elektromagnetisches Feld für Funk beherrschen

Zurzeit herrsche eine Art Patt. Beide Seiten setzen mittlerweile hochmoderne Waffensystem ein, darunter Schwärme von Drohnen. Somit sei es nicht mehr möglich, größere Mengen von Panzern auf einem engen Raum bereitzustellen, weil der Gegner sofort weiß: „Sie kommen und das muss man mit Artillerie und Drohnen unwirksam machen.“ Die Ukraine könnte durch „die Beherrschung des elektromagnetischen Feldes, wo gefunkt wird und Drohnen gesteuert werden“, den „Gegner wieder blind“ machen. „Wenn es der Ukraine gelingt, innovativ das elektromagnetische Feld zurückzuerobern und mit Faktor Zeit zu arbeiten, dann kann sie in der Lage sein, das Momentum auf ihre Seite zu ziehen.“

Der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj sieht den Krieg in einer Sackgasse.Valentyna Polishchuk/Global Images Ukraine via Getty Images