Bei einem freundschaftlichen, aber kontroversen Gespräch mit Alt-Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) erläuterte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban seine Position im Ukraine-Krieg. Ein zentrales Argument von ihm ist die Stärke: Europa sei zurzeit schlicht zu schwach, um einige selbst gesteckte Ziele bezüglich der Ukraine zu erreichen. Das werde ausgeblendet.

Das vollständige Gespräch erschien im Magazin „European Voices“, das von „Die Presse“ und der „Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen“ herausgebracht wird.

Orban und Schüssel kennen sich seit den 1990er Jahren. Im Bild: Östereichs ehemaliger Bundeskanzler (r.) und der ungarische Regierungschef bei den Feierlichkeiten zu Schüssels 70. Geburtstag im Jahr 2015.APA/HERBERT NEUBAUER

Europa hätte vor Invasion nicht auf offener Tür für NATO beharren dürfen

Zunächst kritisierte der ungarische Politiker, dass es überhaupt zum Krieg gekommen ist. „Wir haben nicht alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft, um die Konfrontation zu vermeiden“, erklärte gegenüber Schüssel. Zwar habe es vor der Ukraine-Invasion Gespräche mit Putin gegeben, doch die Politiker hätten stets „gesagt, dass die Politik der offenen Tür der NATO ein Prinzip ist, über das wir nicht verhandeln wollen.“ Dies sei ein Fehler gewesen.

Orban sucht zurzeit nach Verbündeten für seine Ukraine-Politik, über Parteigrenzen hinweg. Im Bild: Mit dem slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico (l.)APA/AFP/ATTILA KISBENEDEK

Europas Problem mit Russland sei nun weniger eines des Vertrauens, meinte der Ministerpräsident. Es sei vielmehr die eigene Schwäche: „Das Problem ist unsere Stärke. Wir Europäer sind nicht stark genug, um von den Russen ernst genommen zu werden.“ Europa müsse „Stärke zeigen und den Russen klar sagen, dass wir Interessen haben und sie Interessen haben, also lasst uns auf dieser Basis einen Deal machen.“

Orban: Es braucht einen Waffenstillstand und Verhandlungen

Als erstes brauche es nun einen „Waffenstillstand, denn jetzt gibt es keine vernünftige Diskussion zwischen den Russen und dem Westen.“ Danach müsse man eine gemeinsame Plattform für Verhandlungen schaffen. „Der dritte Schritt wäre dann, eine für alle Partner akzeptable Position zu finden.“

Alt-Kanzler Schüssel warf ein: „Ein Waffenstillstand heute würde eine De-facto-Niederlage der Ukraine bedeuten.“  Darauf antwortete Orban: „Das hängt davon ab, wie man die Zukunft sieht.“

Ein Waffenstillstand würde eine Niederlage für die Ukraine bedeuten, befürchtet Wolfgang Schüssel.APA/HANS PUNZ

Zeitfenster für NATO-Beitritt ist für Kiew vorbei

Wegen Europas Schwäche und Russlands jetziger Stärke sei auch ein EU- oder NATO-Beitritt der Ukraine illusorisch, meint der ungarische Ministerpräsident. Im Jahr 2008 hätte sich aber eine Chance dazu geboten, und er – Orban – sei damals nicht dagegen gewesen.

Viktor Orban: „Als Politiker weiß man, dass es Zeitfenster gibt. Bis 2008 war Russland zu schwach, um eine Ausweitung der NATO auch auf die Ukraine zu verhindern. Die Chance wurde damals auf dem NATO-Gipfel in Bukarest vertan. Wir waren nicht in der Lage, die Beitrittsgespräche mit der Ukraine oder Georgien abzuschließen, und haben damit die Ukraine als zukünftiges Mitglied der Europäischen Union und der NATO verloren. Seitdem sind die Russen auf dem Weg, immer stärker zu werden. Und es war klar, dass sie jeden Integrationsprozess der Ukraine in die westlichen Strukturen stoppen werden.“

Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (M., CSU) begrüßt im Jahr 2000 auf dem 65. Parteitag der CSU in München die beiden Ehrengäste Ministerpräsident Orban (l.) und Österreichs damaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel.APA/DPA/lby

Nun müsse die Ukraine eine Pufferzone werden, wie von Moskau gewünscht: „Wenn die Russen auf einer Pufferzone um sie herum bestehen, sind zwei Reaktionen möglich. Wir könnten dies akzeptieren und darüber verhandeln. Oder wir könnten Nein sagen. Ohne ein Pufferzonensystem werden wir einen ständigen Konflikt haben, vielleicht eingefroren, vielleicht auch heiß.“

„Die Russen werden nur mit den Vereinigten Staaten verhandeln“

Ein weiteres Problem von Europas Schwäche: Moskau verhandelt primär mit Washington, und nicht in erster Linie mit Brüssel, Berlin oder auch nicht mit Kiew, sagt Orban.

Wolfgang Schüssel berichtet, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj als er das erste Mal an der Münchner Sicherheitskonferenz teilnahm, bei internen Gesprächen durchaus offen über Zugeständnisse gesprochen habe. Schüssel: „Die Frage der Krim könne verschoben und 20 oder 30 Jahre später verhandelt werden, und für die Donbass-Region könne eine konstruktive Lösung gefunden werden, sagte Selenskyj“. Überdies war die Neutralität in der Verfassung verankert worden. „Wie reagierte der Kreml, und insbesondere Putin? Er verspottete Selenskyj als einen Komiker, den man nicht ernst nehmen dürfe.“

Bei informellen Gesprächen habe sich Selenskyj durchaus kompromissbereit gezeigt, sei aber von den Russen verlacht worden, berichtet Schüssel.APA/HANS PUNZ

Darauf Orban: „Die Russen akzeptieren die Ukrainer nicht als Partner. Sie werden nur mit den Vereinigten Staaten verhandeln, und wenn es uns gut geht, wahrscheinlich auch mit Europa. Die größte Gefahr für Europa ist ein Abkommen über die Sicherheitsarchitektur zwischen Russland und Amerika ohne Einbeziehung Europas.“

Auch Orban fordert Ausbau von Europas Verteidigungsindustrie

Sicher sei aber eines: „Wir sollten unsere Verteidigungsindustrie mit einer besseren Aufgabenteilung ausbauen und mehr Geld in unsere Sicherheit investieren“, unterstrich der Ministerpräsident.

An einen Finanzierung der Ukraine bis zum Sieg auf dem Schlachtfeld glaubt der ungarische Ministerpräsident nicht.

Schüssel spricht von mehr Unterstützung für die Ukraine, die für einen Sieg nötig wäre. „Geld ist ein Problem“, antwortet darauf Orban. „Die Menschen in Europa sind nicht damit zufrieden, dass ihre Regierungen der Ukraine mehr finanzielle Unterstützung zukommen lassen.“ Europa könne sich eine Finanzierung der Ukraine, damit diese einen militärischen Sieg erringt, nicht leisten.