Es ist eine Mischung, die sich aus Traditionen, dem Selbstverständnis und dem zweiten Verfassungszusatz ergibt, was man in Europa gerne einfach unter dem Sammelbegriff „US-Waffen-Narr“ in eine Schublade steckt. Doch warum greifen immer mehr US-Bürger zum Sturmgewehr?

„Nie, nie, nie hatte ich das Verlangen, eine Waffe zu besitzen“, sagt Eric Hassen, ein 50-jähriger Immobilienmakler aus Florida. Aber jetzt fühle er sich dazu gezwungen. Denn was in den vergangenen anderthalb Jahren in den USA geschehen sei, habe ihm Angst gemacht. „Ich sah“, erzählt der Mann, „wie Vermummte in Orlando bei den George-Floyd-Protesten Geschäfte plünderten und Autos anzündeten.“ Später, sagt er, hätten ihn die TV-Bilder vom Sturm auf das Kapitol in der Hauptstadt Washington schockiert. Zudem lese er im Internet häufiger als je zuvor von Schießereien und Amokläufen. „Das Leben in Amerika“, meint Hassen, „ist gefährlich geworden.“

Immer mehr Amerikaner lassen sich an der Waffe ausbildenGhost Ring Tactical

Längst im Mainstream angekommen

Hassen ist einer von zahlreichen US-Amerikanern, die sich in ihrem Land nicht mehr sicher fühlen. Vor einigen Monaten kaufte sich Eric Hassen also ein AR-15-Sturmgewehr und eine Pistole, Modell Springfield Hellcat. Nun will er lernen, damit umzugehen. Im Süden der Stadt Albuquerque lässt er sich mit anderen Zivilisten von amerikanischen Ex-Marines drillen. Hassen hat sich bei der Firma Ghost Ring Tactical für ein sogenanntes taktisches Camp angemeldet. Firmen wie diese wachsen in den USA allerorts aus dem Boden. Längst zählen nicht mehr nur irgendwelche Spinner zu ihren Kunden.

Die „Welt“ berichtet von einem Landschaftsgärtner, einem Computerspezialisten und einem Arzt. Auch ein Polizist ist im Camp, der eine Schule in New Mexico vor Amokläufern schützen soll. Ein Automechaniker, ein Sanitäter, eine Veteranin des amerikanischen Militärs. Die Waffentrainingsindustrie wird in den USA dieses Jahr 3,8 Milliarden Dollar umsetzen, wie Daten der Marktforschungsfirma IbisWorld zeigen. Das sind 4,2 Prozent mehr als vor der Pandemie. Es gibt inzwischen rund 11.500 Anbieter, ein Plus von drei Prozent. Bei rund einem Viertel davon können Zivilisten Trainings im militärischen Stil buchen.

Der Umgang mit Sturmgewehren ist längst im Mainstream angekommen.Ghost Ring Tactical

Auch Kinder werden bewaffnet

Seit eineinhalb Jahren brechen die Waffenverkäufe alle Rekorde. Der Boom begann mit den Protesten nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd im Frühling 2020. Zugleich breitete sich damals das Coronavirus aus – und mit ihm die Angst vor einem Kampf um Nahrung, Benzin und Klopapier. Anfang 2021 verunsicherte die Menschen, dass Donald Trump sich weigerte, seine Niederlage in der Präsidentenwahl anzuerkennen. Nun wiederum ist das Land besorgt, weil die Kriminalität steigt.

Inzwischen rüsten die Amerikaner sogar ihre Kinder aus. Die Firma Keystone aus Pennsylvania bietet Waffen an, die einen besonders geringen Rückstoß haben, damit Kinder beim Schießen leichter die Balance halten können. Laut einer Umfrage des prominenten US-Meinungsforschers John Zogby sehen derzeit 46 Prozent der Amerikaner ihr Land vor einem Bürgerkrieg. Nur 43 Prozent halten dieses Szenario für unwahrscheinlich.

Auch viele Frauen sind unter den Teilnehmern der Kurse.Ghost Ring Tactical

Der Bürgerkrieg ist bereits Realität

Blickt man auf die nackten Zahlen, dann sind die USA bereits in einem solchen Bürgerkrieg. 2020 starben 19.500 Menschen im Feuer von Waffen, wie Daten der Organisation Gun Violence Archive zeigen. Das waren 4000 mehr als 2019. Von Jänner bis September 2021 wurden schon rund 15.000 Menschen erschossen, darunter 1100 Kinder und Teenager. Geht es so weiter, dann wird es für Amerikas Zivilisten das bisher tödlichste Jahr.

46 Prozent der Amerikaner rechnet mit Bürgerkrieg.Ghost Ring Tactical

Wird es in den USA zum Bürgerkrieg kommen?