Der anti-Israel Flügel unter den Demokraten wird in den USA stärker werden, vermutet Michael Oren im Gespräch mit dem eXXpress. Was das für Israels Beziehungen zu Washington bedeutet, warum die USA in eine neue Phase des Isolationismus eintreten werden und sich Europa daher bei seiner eigenen Sicherheit besser nicht auf Washington verlassen soll, weshalb das Friedensabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain einen Wendepunkt im Nahen Osten darstellt, und vor welchen internen Herausforderungen Israel in den kommenden 25 Jahren steht: All das erläutert der Top-Diplomat, erfolgreiche Buchautor und Historiker im zweiten Teil des eXXpress-Interviews.

Im ersten Teil hat er unter anderem über Israels Beziehung zu den USA unter Obama und unter Trump gesprochen.

„Haben vor allem mit den Demokraten politische Differenzen“

US-Präsident Joe Biden scheint sich nicht sonderlich gut mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu verstehen. Liegt es nur an der Justizreform oder gibt es noch andere Herausforderungen?

Ich kenne Joe Biden sehr gut von meiner Zeit in Washington. Ich weiß, dass er sehr israelfreundlich ist. Er liebt dieses Land, steht der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft sehr nahe, ich zweifle nicht an seinem Engagement für unsere Sicherheit. Aber Joe Biden ist ein Demokrat, und wir haben vor allem mit der Demokratischen Partei politische Differenzen – nicht ausschließlich, aber insbesondere. Biden hat in seiner Partei einen progressiven Flügel, der uns sehr kritisch gegenübersteht und ihn dafür kritisiert, dass er nicht genug gegen Israel unternimmt. Biden kandidiert für eine zweite Amtszeit im Jahr 2024 und befürchtet, dass der progressive Flügel einen eigenen Kandidaten aufstellt, der ihm Stimmen wegnimmt. Auch deshalb äußert er sich kritisch zu Israel.

Die US-Abgeordnete Pramila Jayapal von den Demokraten gehört dem progressiven Flügel an und attackierte kürzlich den Staat Israel scharf.APA/AFP/Mandel NGAN

Mein Bauchgefühl sagt mir: Die Justizreform ist nicht das eigentliche Problem, sondern die Anwesenheit rechtsradikaler Personen in der israelischen Regierung, wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, die Rassisten sind und Gewalt gegen die Palästinenser befürwortet haben. Das ist aus Sicht des Weißen Hauses untragbar.

US-Präsident Joe Biden posiert für ein Foto mit dem israelischen Präsidenten Isaac Herzog (r.) in der Präsidentenresidenz in Jerusalem am 14. Juli 2022.APA/AFP/MANDEL NGAN

„Die Progressiven werden vermutlich an Einfluss gewinnen“

Sie erwähnten die Progressiven in der Demokratischen Partei, aus deren Reihen mittlerweile ungewöhnlich scharfe Israel-Kritik kommt. Könnte ein sich verstärkender antiisraelischer Trend, getragen von Progressiven und eventuell auch Islamisten, Israels Beziehung zu den USA beeinflussen?

Es hat Auswirkungen auf die Beziehung, sie sind aber im Moment nicht sehr groß. Der progressive Flügel der Demokratischen Partei war vor zehn Jahren noch sehr klein und hatte Angst vor Barack Obama. Heute ist dieser Flügel nicht mehr klein. Er ist sehr laut, hat vor niemandem Angst, und er verschafft seiner Stimme Gehör. Ich denke, er wird mit der Zeit stärker werden und an Einfluss gewinnen. Das ist bereits spürbar. Wie bereits gesagt: Joe Biden muss gegenüber diesem Flügel sehr vorsichtig sein. Das ist einer der Gründe, warum er seine Kritik an Israel so lautstark äußert.

US-Botschafter Michael Oren (l.) begrüßt US-Außenministerin Hillary Clinton (r.) wird bei ihrer Ankunft in Israel am 31. Oktober 2009. Der progressive Flügel unter den Demokraten war damals noch viel schwächer.

Wie kann Israel dieser Herausforderung begegnen?

Es gibt viele Strömungen und Trends in den Vereinigten Staaten, über die Israel keine Kontrolle hat. Wir haben den Wokismus nicht erfunden, wir haben die politische Korrektheit nicht erfunden. Wir sind aber gewissermaßen das empfangende Ende vieler dieser Bewegungen. Wir müssen bescheiden sein in dem, was wir glauben, erreichen zu können. Das Beste, was wir tun können, ist, unsere Positionen zu erklären. Wir hoffen, dass viele Menschen nach Israel kommen und sehen, dass die Realität ganz anders ist als das, was in den Medien oft über uns geschrieben wird.

Michael Oren bei einem Treffen mit CNN-Moderator Wolf Blitzer im Jahr 2011Wiki Commons/Israel inUSA from Washington, DC

„Das Abraham-Abkommen hat alle Annahmen über die Schaffung von Frieden zunichte gemacht“

Im Jahr 2020 haben Israel, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) die Abraham Accords Declaration unterzeichnet und damit ihre Beziehungen normalisiert. Wird das Abraham-Abkommen die Dynamik der Politik im Nahen Osten verändern?

Gewiss. Es war ein Wendepunkt. Es hat die Art und Weise, wie wir Frieden schließen, verändert. Früher dachte man, um Frieden zu schließen müsste man zuerst einen palästinensischen Staat gründen, Jerusalem neu aufteilen, sich auf die Grenzen von 1967 zurückziehen und Hunderttausende von Israelis entwurzeln. Das ist nicht wahr. Nun haben wir Frieden geschlossen, ohne irgendetwas davon zu tun. Überdies ging man davon aus, dass man zuerst Frieden schließt und dann Normalisierung erreicht. Das war das Modell bei Ägypten und Jordanien. Doch bei Abraham-Accords haben wir die Beziehungen zuerst normalisiert und dann Frieden geschlossen. Somit wurden alle Annahmen über die Schaffung von Frieden im Nahen Osten zunichte gemacht und ein neues Paradigma aufgestellt. Freilich: Wenn sich Israel unvorsichtig verhält und einige radikale Elemente der Gesellschaft nicht zurückhält, könnten diese Vereinbarungen immer noch gefährdet werden.

Die VAE und Israel haben ihre Zusammenarbeit weiter vertieft: Am 31. Mai 2022 haben (v.l.n.r.) die Wirtschaftsminister Israels und der VAE, Orna Barbivai und Abdulla bin Touq al-Marri, ein Freihandelsabkommen zwischen den beiden Staaten unterzeichnet.APA/AFP/GPO/Anuj TAYLOR

„Saudi-Arabien würde sich vermutlich gerne anschließen“

Es könnten sich noch weitere Länder anschließen. Ich nehme an, das ist Ihre Hoffnung?

Sicherlich. Und ich glaube nicht, dass die VAE und Bahrain beigetreten wären, ohne grünes Licht von Saudi-Arabien zu erhalten. Ich denke, Saudi-Arabien würde sich gerne anschließen, aber aufgrund unserer Politik gegenüber den Palästinensern ist das sehr schwierig für sie.

Jede Woche wartet der eXXpress mit einem Exklusiv-Interview aus Israel auf.

Israel ist nicht Teil der NATO. Eine Mitgliedschaft würde für Israel nicht Sinn machen?

Ich denke nicht, dass Israel Mitglied der NATO werden und seine Streitkräfte entsenden möchte, um etwa Litauen im Falle eines russischen Angriffs zu beschützen. Wir haben eine sehr enge Beziehung zur NATO. Aber wir können uns auch allein verteidigen – und damit haben wir alle Hände voll zu tun.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg (r.) schüttelt die Hand des israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog vor ihrem Treffen im NATO-Hauptquartier in Brüssel.APA/AFP/John THYS

„Wer nicht genug in die Verteidigung investiert, muss sich auf eine externe Macht verlassen“

Ex-Ministerpräsident Naftali Bennett kurz nach Russlands Invasion zu Präsident Wolodymyr Selenskyj gesagt: Am besten wäre es, wenn sich die Ukraine selbst verteidigen könnte und sich nicht auf die USA und andere NATO-Staaten verlassen müsste. Das hat aber offensichtlich Europa in den vergangenen 20 Jahren getan. Könnte es sein, dass die europäischen Staaten, obwohl sie im Gegensatz zu Israel keine besondere Beziehung zu den USA pflegen, in militärischer Hinsicht abhängiger von den Vereinigten Staaten sind? Im Gegensatz zu Europa scheint Israel auf dem Standpunkt zu stehen, dass es sich am Ende des Tages selbst verteidigen muss.

Natürlich. Deutschland zum Beispiel gibt etwa 1,2 Prozent seines BIP für Verteidigung aus. Bei den Amerikanern ist es viel mehr, und in Israel geben wir mehr als 6 Prozent unseres BIP für Verteidigung aus. Wenn man nicht bereit ist, in Verteidigung zu investieren, dann wird man sich nicht mehr selbst verteidigen können. Man wird sich auf eine externe Macht verlassen müssen, in diesem Fall auf die USA. In Israel wollen wir uns nicht auf die USA verlassen, sondern in der Lage sein, uns aus eigener Kraft zu verteidigen.

2009: Oren spricht bei der Eröffnung der dreitägigen Generalversammlung der Jewish Federations of North America.APA/AFP/Nicholas KAMM

Also ist Europa heute abhängiger von den Vereinigten Staaten als Israel?

Europa hat es im Moment mit einem etwas größeren Feind – Russland – zu tun. Israel hat es hingegen nicht mit einer konventionellen Bedrohung zu tun. Wir sind mit einer unkonventionellen iranischen und arabischen Bedrohung konfrontiert. Sicher ist: Wir werden uns selbst verteidigen.

März 2012: Israels Präsident Schimon Peres (r.) kurz vor seiner Rede in Beverly Hills am Ende seines Besuchs in den USA. Neben Peres sitzen der damalige Bürgermeister von Los Angeles Antonio Villaraigosa (l.) und Michael Oren (M.).APA/AFP/Frederic J. BROWN

„Die USA wollen nicht mehr Weltpolizist sein und ziehen sich zurück“

Könnten europäische Politiker von Israels Umgang mit den USA lernen?

(lacht) Ich weiß nicht, ob ich diese Frage beantworten kann. Ich denke, europäische Staaten müssen langfristig ihre Investitionen in die Verteidigung erhöhen, auch weil die Vereinigten Staaten eine Phase des Isolationismus durchlaufen und viele Amerikaner nicht mehr der Weltpolizist sein wollen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die US-Unterstützung für die Ukraine bei den Wahlen 2024 ein Thema sein wird, wenn Kandidaten die Höhe der US-Gelder für die Ukraine in Frage stellen werden.

Israels ehemaliger Premierminister Naftali Bennett versuchte nach Russlands Invasion zwischen Kiew und Moskau zu vermitteln. Im Bild: Bennett zu Besuch bei Präsident Wladimir Putin (r.) in Sotschi am 22. Oktober 2021.APA/AFP/Sputnik/Yevgeny BIYATOV

Als ich vor zehn Jahren aus Washington zurückkam, hatte ich eine Botschaft für die israelischen Politiker: Das Amerika, an das wir uns erinnerten, jenes von Reagan, Clinton und von George Bush, dieses Amerika ist verschwunden. Amerika denkt jetzt nur noch an sich selbst. Es zieht sich aus dem Nahen Osten zurück, es zieht sich aus vielen Teilen der Welt zurück. Das ist nicht die schlechteste Nachricht. Nur weil Israel heute ein viel stärkeres Land ist und wir in der Lage sind, auf eigenen Füßen zu stehen, heißt das nicht, dass Amerika nicht immer noch unser wichtigster Verbündeter sein wird. Aber es ist eben ein Verbündeter auf eine andere Art und Weise. Darüber sollten sich die Europäer im Klaren sein: Amerika wird nicht immer bleiben wie bisher. Kurz: Die Europäer müssen bei den Verteidigungsausgaben einen Zahn zulegen.

Außenministerin Hillary Clinton (l.) trifft Israels PremierNetanjahu in Jerusalem. Michael Oren steht rechts.Wiki Commons/U.S.-Botschaft Tel Aviv

„Ultraorthodoxe Schulkinder müssen künftig ebenfalls eine moderne Bildung erhalten“

Israel muss sich selbst verteidigen. Es hat aber eine wachsende Bevölkerungsgruppe – die ultra-orthodoxen Juden – die nicht bereit ist, in der Armee zu dienen. Diese Gruppe wächst schnell und verursacht hohe Kosten für die Steuerzahler. Sie haben darüber in Ihrem Buch „2048. The Rejuvenated State“ („2048. Der verjüngte Staat“) geschrieben. Ist das eine große Herausforderung für Israel und wie sollte es mit ihr umgehen?

Das ist definitiv eine große Herausforderung für Israel, aber nicht primär deswegen, weil die Ultraorthodoxen nicht in der Armee dienen wollen, sondern weil sie ihre Kinder nicht so erziehen, dass sie sich in die Wirtschaft integrieren können. In den meisten ultraorthodoxen Schulen erhalten Kinder eine Ausbildung, die in Mathematik und Englisch nicht viel mehr als die zweite Klasse umfasst. Wenn diese jungen Leute ihren Abschluss machen, können sie nachher nicht an einer hochtechnisierten, fortschrittlichen Wirtschaft teilhaben. In meinem Buch habe ich eine Vision von Israels Zukunft für das Jahr 2048, zu unserem 100. Geburtstag, verfasst. In diesem Jahr wird die Hälfte der Schulkinder im Staat Israel ultraorthodox sein. Wenn diese Schulkinder nicht an der Wirtschaft teilhaben können, dann wird das Land selbst nicht nachhaltig sein. Die Menschen werden nicht dafür bezahlen, jene, die es können, werden Israel verlassen. Wir müssen dieses Problem über die Bildung angehen, indem wir dafür sorgen, dass ultraorthodoxe Schulkinder die gleiche moderne Bildung erhalten wie andere Israelis.

Ultra-orthodoxe Juden beten an der Grabstätte von Rabbi Shimon Bar Yochai auf dem Berg Meron im Norden Israels am 9. Mai 2023, während des jüdischen Feiertags Lag BaOmer, dem Todestag des talmudischen Gelehrten.APA/AFP/JALAA MAREY

Das geschieht zurzeit nicht.

Nein, das tut es leider nicht. Die jetzige Regierung hat eine Menge Geld den ultraorthodoxen Schulen gegeben, damit sie ihren Kindern diese Ausbildung nicht geben können.

„Arabische Israelis und arabischen Juden werden zusammenarbeiten müssen“

Eine andere Gruppe in Israel ist die arabisch-sprachige Bevölkerung, die zurzeit von einer Partei in der Knesset vertreten wird. Hat Israels Politik diese Gruppe vernachlässigt? Was sollte für sie und ihre Integration getan werden?

Mein Buch ist auf Englisch, Hebräisch und in der Mitte auf Arabisch. Das war Absicht, denn 21 Prozent unserer Bevölkerung spricht Arabisch. Es ist ein äußerst komplexes Thema. Wir müssen einerseits die Diskriminierung am Arbeitsplatz, im Klassenzimmer und an allen anderen Orten bekämpfen. Andererseits sollten wir die Loyalität unserer Bevölkerung erhalten. Es gibt viele Beispiele von Nationalstaaten, in denen nicht-nationale Minderheiten sehr loyal sind. Ich nenne das den New Deal. Viele der arabischen Politiker, denen ich in der Knesset begegnet bin, haben immer gegen die Besatzung gewettert, aber nicht viel für ihre Gemeinden getan, weder in Bezug auf Bildung, noch in Bezug auf Infrastruktur oder Arbeitsmöglichkeiten. Ich denke, die Zukunft liegt in der Zusammenarbeit zwischen arabischen Israelis und arabischen Juden, denn wir leben gemeinsam in diesem Land. Wir teilen ein gemeinsames Schicksal, wir sollten stolz auf dieses Land sein. Und im Vergleich zu anderen Ländern im Nahen Osten geht es uns sehr gut.

Aber es gibt noch sehr viel zu verbessern. Es wird immer wieder Schwierigkeiten geben. Schließlich befinden wir uns im Nahen Osten…

Michael Oren

Michael Oren wurde 1955 in New York geboren. Der israelische Diplomat, renommierte Historiker und Buchautor ist heute  Politiker der Partei Kulanu, die der politischen Mitte zugeordnet wird. Er wanderte 1979 von den Vereinigten Staaten nach Israel aus. Im Juli 2009 wurde er zum israelischen Botschafter in den Vereinigten Staaten ernannt und verblieb in diesem Amt bis 2013. Seit 2015 ist er Abgeordneter in der Knesset. Er verfasste mehrere Bestseller und Standardwerke über Israel und den Nahen Osten.