Als “Phantomschmerz” bezeichnet die Medizin ein Phänomen, wonach Menschen in der Lage sind, Schmerzen in einem Körperteil zu empfinden, das gar nicht mehr vorhanden ist. Ein tiefer Phantomschmerz quält derzeit landauf landab auch Europas Konservative, weil ihnen mit dem Rücktritt von Sebastian Kurz eine wichtige Lebensader gekappt worden ist. Während in Österreich die politische Linke noch im Freudentaumel ihren kurzfristigen Triumph zelebriert, werfen politische Realisten längst einen ernüchterten Blick auf den Status Quo: Österreich hat massiv an Strahlkraft eingebüßt und die Konsequenzen haben längst noch nicht alle realisiert.

Kleines Gedankenexperiment: Wäre die Republik Österreich ein börsennotiertes Unternehmen, wären ihre Aktien unter der Kanzlerschaft von Kurz in die Höhe geschnellt. Lange Zeit hätte diese Aktie lediglich als solide Investition gegolten, eine langfristige Anlage ohne große Kursschwankungen und dann hat sie sich quasi  über Nacht zum Geheimtipp entwickelt, weil ein neuer CEO an Bord gekommen ist, über den weltweit Medien berichten und dessen Namen auch außerhalb von Anlegerkreisen ein Begriff ist. Seit dieser CEO fehlt, befindet sich die Aktie in argen Turbulenzen. Zwar konnte der Kurs kurzzeitig durch eine rasche Nachfolge-Regelung stabilisiert werden, doch die Euphorie ist bei vielen Anlegern verpufft. Das Beispiel kommt Ihnen übertrieben vor? Anders ausgedrückt: Der Name Sebastian Kurz ist in Deutschland, Österreichs wichtigstem Handelspartner, fast jedem ein Begriff. Christian Kern, Werner Faymann oder Reinhold Mitterlehner kennt hingegen dort kaum jemand.

Deutschland hat sich jahrelang nicht sonderlich für Österreich oder gar für österreichische Politik interessiert und stets milde lächelnd, vielleicht sogar etwas abschätzig, den kleinen Bruder weitestgehend ignoriert. Freilich, zum Ski-Fahren kommen die Deutschen gerne, aber fragt sie mal, wer der Bundespräsident von Österreich ist. Oder nach dem Wortlaut der Nationalhymne. Das Interesse hat sich stets in Grenzen gehalten. Doch plötzlich änderte sich alles und der Grund hatte vier Buchstaben.

Kurz wusste stets, was zu tun war

“So einen brauchen wir auch”, schwärmte die BILD, die größte Zeitung des Landes, und die deutschen Christdemokraten mühten sich ab, den sexy türkisen Zauber auch auf ihr eigenes, durch Merkel etwa angestaubte Image zu übertragen. Jeder Konservative wollte so sein wie er. Ein charismatischer Senkrechtstarter, bestens vernetzt auf dem europäischen Parkett, der es im Gegensatz zu seinen Vorgängern wagte, der deutschen Kanzlerin die Stirn zu bieten. Der die Rechtspopulisten entzauberte und linke Bessermenschen in die Schranken wies.

Während Merkel für Beständigkeit und Permanenz stand, verkörperte er Aufstieg und Aufbruch. Endlich war Österreich wieder wer. Betonung auf war, leider. Denn tatsächlich ist mit dem Abschied von Sebastian Kurz auch das internationale Interesse an Österreich rapide gesunken. Freilich, Alexander Schallenberg war als Nachfolger eine gute Wahl und auch der Kurs der Partei hat sich nicht geändert und trotzdem fehlt jetzt ausgerechnet jene Person, die wie kein Zweiter alles verkörpert hat, was die Linkslinken ablehnen: Leistung, Durchsetzungskraft und Demut. Gift und Galle haben sie jahrelang versprüht und illegitimer Weise versucht, den Kanzler in die Nähe von Rechtspopulisten zu rücken. Doch jeder Politologe im ersten Semester weiß, dass Kurz inhaltlich immer näher an Macron dran war als an Orban – und mit Trump hat ihn am ehesten noch die bedingungslose Solidarität und Freundschaft zu Israel verbunden. Eine Haltung, an der sich auch so mancher Linker gerne mal ein Beispiel nehmen kann. Kurz wusste stets, was zu tun war und wählte seine Worte goldrichtig. Dass er sowohl von Links- als von Rechtsaußen verteufelt wurde, kann zweifellos als Beleg für seine zutiefst demokratische Haltung gewertet werden.

Verdachtslage gegen Kurz ist dünn

“Aber, aber die Inseraten-Affäre!”, wird jetzt der ein oder andere Leser empört an dieser Stelle einwerfen. Doch auch hier würde ein nüchterner Blick nicht schaden: Bislang gibt es keine Beweise dafür, dass Kurz in die Causa tatsächlich involviert war und von den viel zitierten SMS stammte de facto nur ein Bruchteil von ihm, der wenig Aufregendes enthielt. Der Rücktritt erfolgte übereilt. Was bleibt ist Katerstimmung: Österreich war wer. Schade.

Anna Dobler ist eine mehrfach ausgezeichnete, ausgebildete und studierte Journalistin und Kolumnistin. Nach beruflichen Stationen in Berlin, München, Italien und Salzburg lebt und arbeitet sie mittlerweile in Wien. Auf Twitter setzt sich @Doblerin ein für freie Märkte und freie Meinung.