Was steckt hinter dem mysteriösen Vorfall in einem der Reaktoren des Atomkraftwerks in Taishan? Wie der eXXpress berichtete, bereiten nebulöse Vorgänge rund um ein “Betriebsereignis” im noch sehr jungen Kraftwerk (Taishan-1 hat im Dezember 2018 den kommerziellen Betrieb aufgenommen, Taishan-2 im September 2019) fachkundigen Experten derartige Sorgen, dass sich der am Reaktor beteiligte, französische AKW-Bauer Framatome sogar hilfesuchend an die USA gewandt hat.

Französische Framatome schlug gleich zweimal innerhalb von 6 Tagen Alarm

Dass die Franzosen Alarm schlagen, ist auch laut Experten ein klares Zeichen, dass man die Geschehnisse in Taishan genau beobachten sollte: Wie CNN berichtet, hat die französische Framatome binnen kürzester Zeit nämlich nicht nur ein-, sondern gleich zweimal bei den US-Behörden angeklopft: Sowohl am 3. als auch am 8. Juni machte die Framatome die USA darauf aufmerksam, dass radioaktives Gas an einem der Reaktoren austrete: “Die Situation stellt eine unmittelbare radiologische Bedrohung für den Standort und die Öffentlichkeit dar, und Framatome bittet dringend um die Erlaubnis, technische Daten und Unterstützung zu übermitteln, die erforderlich sind, um die Anlage wieder in den Normalbetrieb zu bringen”, wird die französischen Firma vom US-Sender zitiert.

Atomexperte bestätigt Sorgen: "Das ist alles sehr ungewöhnlich"

Wem es bedenklich und ungewöhnlich erscheint, dass sich die Franzosen in der Sache direkt an die USA wenden und sogar eine öffentliche Warnung aussprechen, dem gibt der Atomexperte Mycle Schneider Recht. Schneider ist der Herausgeber des jährlichen “World Nuclear Industry Status Report” und lebt in der Nähe von Paris und dadurch doppelt qualifiziert, in dieser Sache eine Meinung abzugeben. Vom deutschen “Spiegel” um eine Einschätzung gebeten, beschreibt er die Vorkommnisse und den aktuellen Informationsstand zu möglichen Problemen in Taishan als “sehr nebulös”. Die Warnung der Franzosen vor unmittelbar bevorstehenden Problemen sieht er gar als alarmierend an: “Dieser Satz, der Framatome da zugeschrieben wird, lässt zumindest aufhorchen. Es ist sehr ungewöhnlich für diese Firma, mit solch einem Statement nach draußen zu gehen”, erklärt Schneider dem “Spiegel”.

Warum die Franzosen die USA um Hilfe bitten

Neben der offensichtlichen und dringlichsten Frage, was wirklich im Atomkraftwerk vor sich geht, das zwar in einem Industriegebiet liegt, aber nah genug an Megastädten wie Hong Kong oder Shenzen ist, um eine Katastrophe auszulösen, falls es wirklich zu einem atomaren Notfall kommt, drängt sich noch eine andere Frage auf: Warum wendet sich Framatome mit ihrem Hilfegesuch ausgerechnet an die USA?

Die Antwort auf diese Frage liegt, wie so oft, mit hoher Wahrscheinlichkeit in wirtschaftlichen Interessen begründet: Es geht dabei um die noch immer bestehenden Handelsbeschränkungen zwischen China und den USA, ein Überbleibsel aus Trump-Zeiten. Und das interferiert direkt mit Interessen des französischen Unternehmens, dessen chinesischer Partner, CGN, steht auf einer Art schwarzen Liste der USA, der sogenannte Entity List, steht.

Um sich Probleme mit den USA zu ersparen, haben sich die Franzosen darum wohl direkt an die USA gewandt und um eine Ausnahmegenehmigung bemüht. Die Bedrohung, die vom Reaktor in Taishan ausgehen könnte, wurde in diesem Fall als Begründung angeführt, wie der – und zur Begründung die drohende Gefahr in Taishan angeführt.

Viel Lärm um Nichts?

Alles also gar nicht so schlimm und nur ein Bluff, um wirtschaftliche Interessen durchzubringen? Nicht unbedingt. Auch wenn sich zum aktuellen Zeitpunkt schwer sagen lässt, wie groß die Gefahr, die von Taishan ausgehen könnte, tatsächlich ist, besteht immer noch die Möglichkeit, dass das Kraftwerk zumindest zwischenzeitlich abgeschaltet werden muss, falls die Brennstäbe defekt sind – und das wiederum wäre schon allein deshalb problematisch, weil es zuletzt erst eine massive Stromknappheit in der chinesischen Provinz Guangdong, in der die Reaktoren stehen, gegeben hatte. Ohne das Kraftwerk wäre ein Blackout so gut wie vorprogrammiert.

Irgendetwas ist also faul in Taishan – und zu diesem Zeitpunkt lässt sich nur hoffen, dass es sich nur um einen kleinen “Schluckauf” handelt. Dafür würde der CNN-Bericht sprechen, laut dem die US-Behörden die Situation derzeit nicht als ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die Arbeiter in der Anlage und die chinesische Öffentlichkeit einstufen. Dennoch sei die Lage aber dramatisch genug gewesen, dass sich der Nationale Sicherheitsrat in Washington gleich bei mehreren Sitzungen damit befasst habe und es auch Gespräche mit den Regierungen von Frankreich und China gegeben habe. Es heißt also noch Abwarten und Wachsam sein – für die Chinesen, aber auch für die USA und Europa. Denn wie groß der Einfluss der Vorkommnisse in China auf die Weltwirtschaft allgemein ist, zeigte zuletzt der Ausbruch der Corona-Pandemie.