Kürzlich überraschte die „Bild“ ihre Leser. Noch im Mai hatte sie vom „kompletten Kollaps der Russen-Armee“ geschrieben, doch dann zitierte sie aus einem vertraulichen Papier der Bundeswehr, in dem deutlich die Armeeführung in Kiew kritisiert wird.

Die Gegenoffensive komme nicht voran, weil die ukrainische Armee die vom Westen erhaltene Ausbildung nicht vollständig umsetze, heißt es darin. Kiew verteile seine Truppen zu dünn über die 1000 Kilometer lange Frontlinie und greift in Einheiten an, die aus zu wenigen Soldaten bestehen, sagt die Studie. Nach Einschätzung der Bundeswehr opfert die Ukraine ihren personellen Vorsprung, indem sie in Einheiten von 10 bis 30 Mann angreift, die nicht ausreichen, um die russischen Linien zu durchbrechen.

Überdies würden die ausgebildeten ukrainischen Soldaten zwar „große Lernerfolge“ zeigen, würden aber von Kommandeuren im Stich gelassen, die nicht diese Ausbildung absolviert haben. Das ukrainische Militär bevorzuge die Beförderung von Soldaten mit Kampferfahrung gegenüber jenen, die eine Ausbildung nach NATO-Standard erhalten haben, heißt es. Kommandeure können daher „erhebliche Führungsmängel“ aufweisen, die zu „falschen und gefährlichen Entscheidungen“ führen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj (r.) besucht Soldaten bei Bakhmut.Ukrainian Presidency / Handout/Anadolu Agency via Getty Images

Briten halten Kritik an der Ukraine für nicht hilfreich

Ukrainische Streitkräfte kommentierten das Leck und seine Schlussfolgerungen nicht. In der britischen Zeitung „The Telegraph“ kommen allerdings anonyme Beamte des Verteidigungsministeriums und hochrangige britische Offiziere zu Wort. Sie sind „not amused“ über die Studie und üben Kritik. Es „hilft“ niemandem, „die Ukraine übermäßig zu kritisieren“, erklären sie.

Tendenziell wartet das britische Verteidigungsministerium seit Beginn der Invasion mit besonders optimistischen Einschätzungen über das Vorankommen der ukrainischen Streitkräfte, und mit besonders negativen über den Fortschritt der russischen Streitkräfte auf.

Zweifel, dass Deutschlands Vorwurf stimmt

Eine hochrangige Quelle aus dem Verteidigungsbereich meint gegenüber „The Telegraph“: „Es gab natürlich Fälle, in denen die Ukrainer anders vorgegangen sind, aber ich würde behaupten, dass sie versucht haben, ihre westliche Ausbildung umzusetzen. Die Ukrainer haben sicherlich viele Probleme, aber ich glaube nicht, dass dieser deutsche Vorwurf stimmt”. Die Vorstellung, dass sie die Formationen ignorieren, in denen wir sie ausgebildet haben, klingt für mich nicht richtig.

„Sehen Sie, es ist nicht fair, die Ukraine zu beschuldigen, ihre westliche Ausbildung zu vernachlässigen“, meint ein anderer Beamter. „Die Ukraine nutzt die Ausrüstung so, wie sie es für richtig hält. Ich denke, der springende Punkt ist, wie einfach es ist, einen Kommentar abzugeben, wenn man Tausende von Kilometern von der Front entfernt in einem gemütlichen Bürogebäude sitzt, nicht unter schwerem Artilleriebeschuss steht und nicht sein Leben für sein Land riskiert.“