Zumindest mit einem Szenario rechnen zurzeit weder russische noch US-Militärexperten: Dass der Finanzier der Wagner-Gruppe mit seiner bewaffneten Rebellion Erfolg hat und den von ihm gewünschten Führungswechsel im russischen Verteidigungsministerium erzwingen wird. Eher könnte das gegenteilige Szenario die Situation raschn ändern: ein blutiges Gefecht zwischen Jewgeni Prigoschins Kämpfern und den Einheiten des Kreml. Die Wagner-Elite-Soldaten wären dann wohl unterlegen.

Doch möglicherweise passiert weder das eine noch das andere.

Erstes Szenario: Prigoschin entfesselt einen Bürgerkrieg

Zwar ist die Wagner-Gruppe eine gut ausgerüstete Elite-Einheit, doch ihr Anmarsch auf Moskau wird als so gut wie chancenlos eingeschätzt. Von der Mannstärke bis zur Bewaffnung ist den russischen Truppen klar unterlegen. Erfolgsversprechender wäre Prigoschins Vormarsch nur, wenn sich ihm größere Teile der russischen Armee anschließen.

Als „Marsch für die Freiheit“ hatte der Wagner-Boss seine Operation bezeichnet. Immerhin konnte er einzelne wichtige militärische Einrichtungen besetzen. Hinweise auf Kämpfe zwischen Wagner und russischen Soldaten gab es zu Beginn kaum. Das Militär verhielt sich passiv und akzeptierte Wagners Vormarsch. „In den kommenden Stunden wird die Loyalität der russischen Sicherheitskräfte, insbesondere der russischen Nationalgarde, entscheidend für den weiteren Verlauf der Krise sein“, sagt der britische Verteidigungsministerium.

Es könnten sich also russische Einheiten dem Wagner-Boss anschließen, und auch Teile der Russen. Die Bevölkerung in der von Wagner besetzten Stadt Rostow verhält sich unterschiedlich. Manche unterstützen und versorgen die Wagner-Kämpfer, andere beschimpfen sie..

Was gegen dieses Szenario spricht: Prigoschin dürfte nicht sehr erfolgreich darin gewesen sein, die Gefolgschaft hochrangiger russischer Offiziere zu gewinnen. So hat selbst der Wagner nahestehende Armeegeneral Sergei Surovikin Prigoschins Aufruf zur Rebellion klar verurteilt.

Der Wagner-Boss lehnt sich vor allem gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu (Bild) auf. Statt auf weitere Unterstützung zu warten, will Prigoschin nun die Führung im Verteidigungsministerium stürzen.

Zweites Szenario: Prigoschin nimmt Städte in Geiselhaft

Die Stadt Rostow wurde von den Wagner-Kämpfern bereits eingenommen. Das kommt nicht von ungefähr. Die dortige Militärführung ist wichtig für Russlands Kriegsanstrengungen in der Ukraine. Rostow beherbergt zum einen das Hauptquartier der südlichen Militärdistrikts, dessen 58. Armee mit kombinierten Waffen derzeit maßgeblich bei der Abwehr der ukrainischen Gegenoffensiven in der Südukraine hilft. Zum anderen ist hier die Kommandozentrale für die gemeinsamen russischen Streitkräfte in der Ukraine insgesamt.

Prigoschin konnte damit vorerst einen wichtiges Hauptquartier der russischen Armee unter seine Kontrolle bringen. Nicht ohne Grund: Schließlich beschuldigt er ja das russische Verteidigungsministerium und ungenannte Oligarchen, Putin und die russische Öffentlichkeit zu täuschen, um die russische Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 zu starten. Anstatt auf mehr Unterstützung durch den Kreml zu warten will er offensichtlich so einen bewaffneten Aufstand gegen das russische Verteidigungsministerium führen.

Nun könnte er die eingenommene Stadt Rostow als Geisel verwenden und versuchen Putin zu Verhandlungen zu zwingen.

Mitglieder der Wagner-Gruppe fahren auf dem Panzer durch die Stadt Rostow am Don.APA/AFP/STRINGER
Die Wagner-Gruppe hält einen Mann in Rostow fest, andere Bewohner sehen zu.APA/AFP/STRINGER

Drittes Szenario: Prigoschin startet einen neuen Angriff auf die Ukraine

Über diese Option wird öfters diskutiert: Die russische Armee startet über nördlichere Regionen eine Gegenoffensive gegen Kiew, nachdem ukrainische Truppen mit ihrer Offensive fest stecken, und dadurch zusätzlich geschwächt werden.

Prigoschins Einheiten könnten auf halben Weg nach Moskau gegen Westen abbiegen und über Belgorod neuerlich die Ukraine ins Visier nehmen. Ein gemeinsames Manöver mit russischen Streitkräften könnte durchaus erfolgreich sein.

Belgorod ist etwa 40 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entferntAPA/AFP/Olga MALTSEVA

Die „Times“ berichtet gleichzeitig von Unzufriedenheit innerhalb der ukrainischen Armee über die vom Westen gewünschte Gegenoffensive. Einige Soldaten klagen über unrealistische Erwartungen und halten die Gegenoffensive für kontraproduktiv. Russland könnte diese Schwäche ausnützen.

Was gegen dieses Szenario spricht: Putin hat den Aufstand bereits offen und unmissverständlich verurteilt. Zurzeit ist Russland noch mit der Abwehr der ukrainischen Offensive beschäftigt, und nun offensichtlich auch mit der Wagner-Gruppe.

Gut für den Westen?

Schadenfreude macht sich unterdessen in der Ukraine breit. Einige holen bereits Popcorn hervor. Inmitten einer unglücklichen Gegenoffensive konnte Kiew – wie es scheint – gar nichts Besseres passieren, als eine interne Schwächung Russlands. Ob das, was hier geschieht, aber wirklich im Interesse des Westens ist, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Dass Prigoschin nämlich siegt und in der Folge über den Einsatz von Atomwaffen entscheidet, kann sich näher besehen eigentlich niemand wünschen.