Vor allem in den ersten eineinhalb Jahren nach Russlands völkerrechtswidriger Ukraine-Invasion verbreitete das „Institute for the Study of War“ Optimismus. Es berichtete etwa von Russlands kostspieligen, aber ineffizienten Manövern, und von den verschiedenen Vorteilen der ukrainischen Armee auf dem Schlachtfeld. Nun klingt das anders.

In einer neuen Analyse schlägt die amerikanische Denkfabrik Alarm: „Eine russische Eroberung der gesamten Ukraine ist keineswegs unmöglich, wenn die Vereinigten Staaten jegliche militärische Unterstützung einstellen und Europa dem Beispiel folgt“, warnen die Analysten des Institutes. Die geostrategischen Folgen wären verheerend. Die Studie spricht von gewaltigen Kosten und einer Überforderung der Vereinigten Staaten, um sowohl auf Angriffe aus Russland, als auch auf China angemessen vorbereitet zu sein.

Europa und das Weiße Haus haben mit diesem Szenario im Frühjahr 2022 offenbar nicht gerechnet. Damals konnte die Ukraine Putins Pläne durchkreuzen und dank entschlossener Verteidigung eine vollständige Invasion abwehren. Für einige NATO-Staaten war daraufhin eine rasche Verhandlungslösung nicht mehr das vorrangige Ziel. Nun hält das US-Institut einen solchen dramatischen Kriegsverlauf aber für möglich.

Russland könnte erstmals seit den 1990er Jahren eine größere konventionelle Bedrohung für die NATO werden

Seit der Invasion hat sich die Ausgangslage verändert, unterstreicht die Studie. Die Russen konnten ihre Verluste an Arbeitskräften ausgleichen und ihre industrielle Basis ausbauen. Deshalb können sie „materielle Verluste viel schneller ausgleichen, als es ihre Vorkriegskapazitäten erlaubt hätten“, unterstreichen die Autoren.

Russlands Panzer-Produktion läuft seit einem Jahr auf Hochtouren.APA/AFP/Russian Defence Ministry/Vadim Savitsky

Falls die Ukraine ohne westliche Hilfe früher oder später den russischen Vormarsch nicht mehr aufhalten kann, droht den Autoren zufolge der vollständige Sieg Russlands: „Eine angeschlagene, aber siegreiche russische Armee würde bis an die NATO-Grenze vom Schwarzen Meer bis zum Arktischen Ozean“ gelangen. Diese verfüge dann „über Kampferfahrung“, und werde überdies „wesentlich größer sein als die russischen Landstreitkräfte vor 2022“. Auch die russische Wirtschaft werde sich allmählich erholen. Russland werde „fortschrittliche Luftabwehrsysteme mitbringen“.

Vor einer drohenden Niederlage Kiews sprach kürzlich erstmals der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj (Bild).

Das sollte Washington allerdings nicht egal sein. „Die Vereinigten Staaten haben ein viel größeres Interesse an Russlands Krieg gegen die Ukraine, als die meisten Menschen denken.“ Denn dann „kann Russland zum ersten Mal seit den 1990er Jahren eine größere konventionelle militärische Bedrohung für die NATO darstellen“.

Was tun, falls Russland siegt? Mit dieser Frage muss sich auch US-Präsident Joe Biden (Bild) befassen.

Russen wären zu Offensiven gegen mehrere NATO-Staaten in der Lage

Das Szenario: Die russischen Streitkräfte könnten „bis an die ukrainische Westgrenze vordringen und neue Militärstützpunkte an den Grenzen zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien errichten.“ Vermutlich würden die Russen „die Komponentendivisionen in diesen Armeen auf die normale Stärke von jeweils drei Regimentern aufstocken und auf weiter hinten liegende Formationen zurückgreifen“. Überdies dürfte der Kreml „entweder permanent oder nominell rotierend eine Luftlandedivision (drei Regimenter) und eine mechanisierte Infanteriedivision (wahrscheinlich drei Regimenter) auch im Südwesten und Norden von Belarus stationieren.“

Überdies wären die russischen Bodentruppen durch ein dichtes Luftverteidigungsnetz aus S-300-, S-400- und S-500-Langstrecken-Luftabwehr- und Raketenabwehrsystemen abgedeckt. Die Russen wären in der Lage, „eine kurzfristige mechanisierte Offensive gegen einen oder mehrere NATO-Staaten mit mindestens acht Divisionen anzudrohen, unterstützt durch erhebliche Reserven“.

Herstellung von Tarnkappenflugzeugen für Asien und für Europa

Darauf ist das westliche Verteidigungsbündnis nicht vorbereitet: „Die NATO wäre nicht in der Lage, einen solchen Angriff mit den derzeit in Europa befindlichen Streitkräften abzuwehren.“ Die USA müssten dann „einen beträchtlichen Teil ihrer Bodentruppen nach Osteuropa verlegen.“

Was den Autoren besonders viel Kopfzerbrechen bereitet: Gegen Russlands verbesserte Luftabwehre bräuchte es amerikanische Tarnkappenflugzeuge, die allein diese Luftabwehrsysteme zuverlässig durchdringen können. Das Problem: Ihr Herstellung ist teuer, sie müsste schnell vorangetrieben werden und: Diese Militärjets werden ebenso „zur Abschreckung und Konfrontation mit China dringend benötigt werden“.

Die USA müssten sündteure Tarnkappenflugzeuge in hoher Zahl rasch herstellen, warnt die Studie.

„Die Kosten wären astronomisch“

Die Militärexperten sprechen von einer „schrecklichen Entscheidung“, zu der die Vereinigten Staaten gezwungen wären, nämlich „einerseits genügend Flugzeuge in Asien zu halten, um Taiwan und ihre anderen asiatischen Verbündeten zu verteidigen, und andererseits einen russischen Angriff auf einen NATO-Verbündeten zu verhindern oder abzuwehren.“

Fazit: „Die Kosten für diese Verteidigungsmaßnahmen wären astronomisch und würden wahrscheinlich mit einer Periode sehr hohen Risikos einhergehen, in der die US-Streitkräfte weder auf Russland noch auf China, geschweige denn auf beide zusammen, angemessen vorbereitet oder vorbereitet wären.“