Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko ist besorgt. Er sieht die Ukraine unter Selenskyj auf dem Weg in einen autokratischen Staat. In den vergangenen 23 Monaten haben die wichtigsten Fernsehsender der Ukraine ein einziges Programm ausgestrahlt: United News Telemarathon. Nach Ansicht des Ex-Boxweltmeisters lässt es kaum Raum für abweichende Meinungen. Gleichzeitig würden Journalisten, die Präsident Wolodymyr Selenskyj und seiner Regierung kritisch gegenüberstehen, unter Druck gesetzt. Seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 wurden mehr als 200 Bürgermeister und Gemeinderatsvorsitzende im ganzen Land durch Militärverwalter ersetzt, berichtet Klitschko.

Entwicklung erinnert Klitschko an Russland unter Putin

„Es riecht nach Vertikalismus und Autoritarismus“, sagte Klitschko gegenüber der kanadischen Tageszeitung „The Globe and Mail“. Einige Personen „wollen alles zentralisieren, und deshalb sehe ich zentralisierte Medien und Fernsehen in der Ukraine, und sie versuchen auch, die Macht zu zentralisieren, eine Vertikale aufzubauen.“

Zustände wie in Russland? Zensur und scharfes Vorgehen gegen kritische Medien und Oppositionspolitiker wurden bisher vor allem Präsident Wladimir Putin (Bild) vorgeworfen. Contributor/Getty Images

Der Begriff „Machtvertikale“ wurde zunächst von Wladimir Putin verwendet, um sein eigenes hierarchisches System zu bezeichnen. Klitschko verwendet bewusst denselben Terminus. Was nämlich zurzeit in der Ukraine geschieht, das habe er schon einmal gesehen – in Russland, wo von den Oppositionsparteien und kritischen Medien fast nichts übrig geblieben ist. Klitschko berichtet: „Die Bürgermeister und Gemeindevorsteher werden von den Bürgern gewählt, und sie werden durch Leute ersetzt, die von oben eingesetzt werden. Deshalb mache ich mir Sorgen.“

Der ehemalige Boxweltmeister hatte seine Bedenken auch in Gesprächen mit westlichen Botschaftern in Kiew geäußert. Einige Diplomaten teilen seine Befürchtungen.

Selenskyjs Kritiker sprechen von Schikanen und Überwachung

Jüngste Vorfälle nähren die Ängste um die Pressefreiheit im Land. Am Sonntag berichtete der Enthüllungsjournalist Yuriy Nikolov – ein deklarierter Selenskyj-Kritiker –, dass unbekannte Männer an seine Wohnungstür geklopft und ihn aufgefordert hätten, der Armee beizutreten. An seiner Tür hingen überdies Zettel mit Aufschriften, die ihn als „Verräter“ und „Wehrdienstverweigerer“ bezeichneten. Ein Selenskyj-freundlicher Telegram-Kanal stellte ein Video online, in dem ein solches Schild an Nikolovs Tür geklebt wird.

Es war nicht der einzige Vorfall. Denys Bihus, der Direktor der Website Bihus.info, die Korruption im Militär aufgedeckt hat, erklärte, dass seine Mitarbeiter mindestens ein Jahr lang überwacht worden seien. Er nannte dies eine „systematische, langfristige Überwachung und Schikanen, um die Arbeit des Teams zu diskreditieren“.

Verzerrte Wahrnehmung: Einseitige Berichte von der Front

Nachdem Organisationen wie Transparency International der Ukraine ihre Sorgen mitteilten, erklärte Kiew, dass der Sicherheitsdienst des Landes SBU mit der Untersuchung der Fälle beauftragt worden sei. „Jeder Druck auf Journalisten ist inakzeptabel“, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. Klitschko begrüßt das. „Die Reaktion des Präsidenten war sehr wichtig.“

United News Telemarathon preist im TV unterdessen permanent die Erfolge des ukrainischen Militärs und spielt die Rückschläge herunter. Das Ergebnis: „Ein großer Teil der Gesellschaft versteht nicht genau, was an der Front passiert“, sagt der ehemalige Boxweltmeister. Daher verstünden die Ukrainer ebenfalls nicht die jüngste Forderung des Militärs nach 500.000 neuen Rekruten, um die neue russische Offensive aufzuhalten.