Ende August 2022 konnten die ukrainischen Streitkräfte dank einer überraschenden Gegenoffensive etwa 6000 Quadratkilometer Land im Osten zurückerobern. Viele Beobachter sprachen von einem Wendepunkt. Nikolaus Amhof, Wehrsprecher der FPÖ Wien, war schon damals zurückhaltend, wie er gegenüber eXXpressTV festhielt. „Man macht sich da Illusionen“, kritisierte er. Aus Amhofs Sicht hat die damalige Offensive eher ein Umdenken bei den Russen ausgelöst. Seine in Militärkreisen viel beachtete Einschätzung: Nun bewege man sich auf einen langen Abnützungskrieg zu, bei dem aber Moskau im Vorteil ist. Fast neun Monate später sieht er sich bestätigt.

„Im Großen und Ganzen ist seither alles wie erwartet abgelaufen. Die ukrainische Gegenoffensive hat damals kurzfristigen Erfolg gebracht, der aber nicht von Dauer war, weil die strategischen Grundlagen für einen andauernden Erfolg nicht vorhanden sind“, meinte er im Rückblick. Russlands Armee sei der ukrainischen einfach überlegen. Der Kräfteverhältnisse bezifferte Amhof mit 10:1. Der Grund dafür sei nicht allein die Bevölkerungsgröße. Hier lag das Verhältnis zu Beginn der Invasion bei 3,5:1 zugunsten Russlands, und ist nun auf 5:1 angewachsen. „Es geht auch um den militärisch-industriellen Komplex“, erläuterte Amhof. „Russland ist eine sehr alte Militärmacht, die jahrelang viele Mittel in diesen Apparat gesteckt hat. Es geht um das insgesamte Kräfteverhältnis.“

Russland kann auch mit mittelmäßigen Waffen erfolgreich sein

Kiews Vorteile mit Blick auf die Präzision seiner Artillerie und die neue Technologie könne Amhof zufolge daran nichts ändern: „Russland hat schon während des Zweiten Weltkriegs genügend produziert, wenn auch mit US-Hilfe, um einen langen Krieg in einer anderen Größenordnung durchzuhalten.“ Nun sei es langfristig in der Lage, die notwendigen Rüstungsgüter nachzuproduzieren, „weil Arbeitskräfte, Industrie und Rohstoffe im Land sind.“ Zwar gelte das für die Technologie nicht im selben Maße, aber: „Auch mit großer Menge an mittelmäßigen oder unterdurchschnittlichen Waffen kann man durchaus einen Erfolg erzielen, wenn man genug davon produziert.“

Die Ukraine erhalten technologisch durchaus hochwertige Waffen aus dem Westen, „allerdings nicht in dem Maße wie das notwendig wäre“. Mit Blick auf Vietnam und Afghanistan ist Nikolaus Amhof auch skeptisch, ob die Unterstützung lang genug anhalten wird.

Aufklärung durch Satelliten für Ukraine ein besonders großer Vorteil

Optimisten auf der Seite der Ukraine sehen den personellen Vorteil Russlands überbewertet. Sie führen die hohe Anzahl an freiwilligen und professionellen Soldaten bei der Ukraine an. „Den Wettlauf wird das einwohnerstärkere und motiviertere Land gewinnen“, meint dazu der Militär-Experte. „Dass die Bevölkerung in der Ukraine sehr patriotisch ist und diesen Krieg in einem höheren Ausmaß unterstützt als in Russland, ist sicher richtig.“ Aber: „Mehr professionelle Soldaten kann man ausbilden. Das ist eine Frage der Zeit. Freiwillige im Inland kann man immer motivieren, wenn Geld im Spiel ist.“ Russlands Lage dürfte hier wohl besser sein, meint er.

Wichtige Hilfe erhalte die Ukraine durch Satelliten, sagt AmhofGetty

Entscheidend sei Kiew die Unterstützung durch die NATO vor allem in einer Hinsicht: bei der Aufklärung durch Satelliten. „Das ist der wichtigste Punkt und für die russische Seite ein Problem. So kann jeder Mopedfahrer auf der Straße geortet werden. Die Ukraine ist genau informiert, was auf russischer Seite passiert. Sie sehen dem Anderen gewissermaßen in die Karten. Das ist ein großer Nachteil für die Russen, weil sie keine Kräftekonzentration machen können.“

Wagner-Gruppe wird nicht effektiv eingesetzt

Kritisch bewertet der Militärexperte die Rolle der Wagner-Gruppe unter ihrem Boss Jewgeni Prigoschin (61). „Die Gliederung in Freiwilligenkorps, Söldner-Truppen etc. ist nicht effektiv. Besser ist eine Armee aus einem Guss. Die Wagner-Gruppe ist daher sicher nicht die effektivste Ausnutzung der Wehrkraft. Hier wird eine Elite eingesetzt. So entzieht man der regulären Wehrkraft gute Kämpfer und Offiziere. Es gibt keine also einheitliche Befehlskette. Ich persönlich würde das nicht empfehlen.“

Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner Jewgeni Prigoschin: Dass der Einsatz seiner Eliteeinheit effektiv ist, bezweifelt Amhof.APA/AFP/TELEGRAM/@concordgroup_official/handout

Zur umkämpften Stadt Bakhmut findet Amhof: „Dieser Ort wird überbewertet. Das ist eine Kleinstadt mit begrenzter Wirkung. Sie ist psychologisch wichtig für den Moment.“ Militärexperten hatten hier bisher Kritik an beiden Seiten geübt: an der Ukraine, weil sie einen seit Dezember verlorenen Ort mit aller Kraft halten wollte, was generell verlustreicher ist, als sich hinter eine neue Verteidigungslinie zurückzuziehen, an Russland, weil es unnötig verbissen bis zum letzten Haus in Bakhmut gekämpft hat.

Dazu sagt Nikolaus Amhof: „Eine Stadt frontal anzugreifen ist eigentlich kostspielig und nicht effektiv. Wenn möglich, umgeht man das. Man kreist die Stadt zuerst von beiden Seiten ein.“ Hat also auch Russland unnötig Pulver verschossen? „Ja und nein“, sagt Amhof. „Man muss das in Zusammenhang mit der russischen Gesamtstrategie sehen. Zunächst hat ein schneller Erfolg nicht funktioniert, wohl auch weil man falsch informiert war. Nun ist man in einen Abnutzungskrieg übergegangen. Das kostet beide Seiten Kräfte und Menschen. Die Frage ist, wer das länger durchhält. Diese Abnützungsstrategie könnte Russland durchaus in die Hände spielen.“

In der Verteidigung könnte die Ukraine mehr erreichen

Auf die Frage, was er der Ukraine in der jetzigen Situation raten würde, holt Amhof aus: „Man muss die Kriegsziele definieren. Russland will Teile der Ukraine besetzen, vielleicht auch diesen Staat wieder unter Kontrolle bringen.“ Was aber sollen die Kriegsziele Kiews sein? „Dass man Russland militärisch besiegt und besetzt, ist beinahe auszuschließen. Also kann der Erfolg nur darin bestehen, in der Verteidigung zu bleiben und Widerstand zu leisten. Verteidigung ist die stärkere Form der Kriegsführung. So kann man dem überlegenen Angreifer so lange Verluste zufügen und Zeit gewinnen, bis es ihm zu dumm wird und er an den Verhandlungstisch kommt.“

Dafür stünden die Aussichten an sich gut, meint Nikolaus Amhof. „Russland könnte sagen: Wir haben im Großen und Ganzen die Russisch besiedelten Gebiete unter Kontrolle gebracht. Die Ukraine könnte sagen: Wir haben gegen eine Großmacht eineinhalb Jahre durchgehalten und damit einen Achtungserfolg erzielt.“ Als der Schwächere käme man mit einer beweglichen und gut durchdachten Verteidigung auf jeden Fall am weitesten. Dabei könne man auch „Peinlichkeiten produzieren“, indem es dem Stärkeren im Angriff nicht gelingt, eine Entscheidung zu erzielen.

Amhof: „Ich würde mich hier anstelle der Ukraine den sowjetisch-finnischen Krieg (30. November 1939 bis 13. März 1940) zum Vorbild nehmen. Auch hier habe der deutlich unterlegene Gegner so lange Widerstand geleistet, bis die Sowjetunion bereit war, einen Frieden zu schließen.“

Winterkrieg mit Finnland 1939, sowjetische Truppen der Roten Armee stürmen eine finnische Waldfestung.Sovfoto/Universal Images Group via Getty Images

Initiative zur Gegenoffensive kam vermutlich nicht vom ukrainischen Militär

Allerdings tut die Ukraine zur Zeit etwas anderes: Sie hat eine neue Gegenoffensive gestartet. „Die wirklichen Treiber dahinter befinden sich, so wie ich das sehe, nicht im ukrainischen Militär“, vermutet Amhof. „Das sind die ukrainischen Politiker und die stehen wiederum unter dem Druck der westlichen Waffenlieferanten, die eine Offensive wünschen.“

Der Westen hätte die Ukraine nicht zu dieser Gegenoffensive drängen sollen, kritisiert Amhof. Im Bild: Präsident Selenskyj und US-Präsident Joe Biden.APA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/Photo by Handout

Der FPÖ-Politiker hält fest: „Meiner Meinung nach ist die Gegenoffensive kontraproduktiv.“ Sie ziehe mehrere negative Entwicklungen für die Ukraine nach sich. „Erstens geht man aus den eigenen Stellungen heraus, von der stärkeren Kampfform der Verteidigung geht man in den Angriff über, und besetzt immer mehr Gebiet, das man halten muss. Schließlich ist zu bedenken, dass die ukrainischen Streitkräfte immer weiter in russisches Gebiet vordringen, wo die Bevölkerung dann weniger wohlwollend gegenüberstehen wird. Das macht einen großen Unterschied.“ In befreundetem Umfeld sei es beispielsweise leicht, einen Panzer reparieren zu lassen, in feindlichem weniger.

Amhof hinterfragt somit den Sinn der Gegenoffensive.

Österreich verhalte sich nicht wie ein neutraler Staat

Kritik übte der freiheitliche Politiker am Verhalten Österreichs. Als neutraler Staat müsse es sich „aller Handlungen enthalten, die eine der beiden Parteien bevorzugt oder benachteiligt.“ Das geschehe nicht, wenn man sich an einem Wirtschaftskrieg gegen eine Seite beteilige. Ebenso vermisst er Druck auf die Ukraine. „Die könnte ja auch durchaus zu Friedensverhandlungen gedrängt werden kann.“